Transformative Wirtschaftswissenschaft: Reflexion von André Reichel

tl;dr: Die großen Fragen des 21. Jahrhunderts müssen an transformativen Hochschulen in der Mitte der Gesellschaft gemeinschaftlich analysiert, diskutiert und verhandelt werden.

Im Juni 2016 haben 30 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einen Aufruf für eine »Transformative Wirtschaftswissenschaft« veröffentlicht. Es geht dabei um die Rolle der Wirtschaftswissenschaft in einem »deep change« der kulturellen Identität, Weltbilder und Verhaltensweisen hin zu einer Nachhaltigen Entwicklung in der Gesellschaft. Als Professor für Critical Management & Sustainable Development an der Karlshochschule bin ich selbst einer der Mit-Autoren und Unterzeichner des Aufrufs. Auf unserem KarlsBlog haben wir dazu Interviews mit einigen meiner Kolleginnen und Kollegen geführt: Reinhard Pfriem, Uwe Schneidewind, Angelika Zahrnt und Irmi Seidl, Thomas Korbun, Niko Paech.

Heraus kamen inspirierende und bedenkenswerte Antworten auf Fragen nach Motivlagen, Mängeln in der herrschenden wirtschaftswissenschaftlichen und Managementforschung, was anders gestaltet und angegangen werden müsste und wie sich die Lehre zu ändern hätte. In diesem Beitrag will ich versuchen, einige zentrale Themenstellungen und Herausforderungen zu benennen, die sich in den Interviews immer wieder ergeben haben.

Die Motive hinter dem Aufruf

Die Motivlagen hinter diesem Aufruf lassen sich in zwei Kategorien einteilen. Zum einen wird Wissenschaft in der Verantwortung gesehen, sich aktiv in gesellschaftliche Veränderungsprozesse einzubringen, diese zu analysieren und geeignetes Handlungswissen gemeinsam mit anderen, außerwissenschaftlichen Akteuren zu erzeugen. Eine transformative Wirtschaftswissenschaft muss also raus aus den Elfenbeintürmen, raus aus zu engen, disziplinär gezogenen Horizonten. Dies geschieht in der Wahrnehmung unserer Interviewpartner offensichtlich noch viel zu wenig.

Zum anderen ist ein Unbehagen an der Art und Weise zu konstatieren, wie wirtschaftswissenschaftliches und Managementwissen gelehrt wird. Der »Mainstream« taucht hier als Referenz auf, dem eine religionsartige Qualität beigemessen wird, die verhindert, dass außerhalb etablierter Methoden, Theorien und Konzepte überhaupt noch etwas Gesellschaftsrelevantes in den Blick genommen werden kann. Ansonsten besteht die Gefahr in einer Abschottung der Wirtschaftswissenschaften in einem Theorie- und Methodengebäude, das nicht mehr mit dem Rest der Gesellschaft und ihren Fragen kommunizieren kann.

Bestehendes Wissen in Form etablierter Theorien und Methoden kann also zu einer gefährlichen Blindheit und Abschottung der Wirtschaftswissenschaften führen. Umso wichtiger ist es für Akteure der Wissenschaft sich aktiv in gesellschaftliche Problemlagen und Veränderungsprozesse einzubringen und den Kontakt zu außerwissenschaftlichen Akteuren als Partner in der Wissensproduktion suchen

Rolle und Perspektiven einer transformativen Wirtschaftswissenschaft

Es besteht bei den Interviewpartnern große Einmütigkeit, dass Wissenschaft in ihrer Wissensproduktion immer eine performative Wirkung auf Gesellschaft hat, vor allem auf Politik. Gerade die Wirtschaftswissenschaft kann sich deswegen normativ nicht ins Abseits stellen. Es wäre vielmehr ihre Aufgabe, ihre eigene Wirkung auf Gesellschaft zu hinterfragen, die gegenwärtige Lage der Gesellschaft zu diagnostizieren, ihre eigenen wie die Annahmen der Gesellschaft über sich selbst offenzulegen und Szenarien der Veränderung gemeinsam mit außerwissenschaftlichen Akteuren zu begründen. Wissenschaft kann so zu einer reflexiven Instanz in der Gesellschaft werden.

Die Öffnung der Wirtschaftswissenschaft hin zur Gesellschaft und ihren tatsächlichen Herausforderungen bedeutet dann, tradierte Paradigmen zu hinterfragen und alternative Konzepte und Leitbilder stärker in den Blick zu nehmen. Jenseits von Vorstellungen von Gleichgewicht, Effizienz, Produktivität und Optimalität sind dies vor allem:

  • Entropie – die physikalische Fundierung und Einbettung wirtschaftlicher Aktivitäten in natürliche Kreisläufe und Zusammenhänge
  • Emergenz – das Auftreten spontaner und unbeabsichtigter Ordnungs- und Unordnungszustände, die längerfristig stabil sein können
  • Unsicherheit – der Umgang mit »schwarzen Schwänen« jenseits von Risikowahrscheinlichkeiten und Gaußscher Normalverteilung
  • Resilienz – die Eigenschaften eines Systems, die es ihm erlauben auch unter großem Stress und nach Zusammenbrüchen seine Identität und Funktionsfähigkeit aufrechtzuerhalten bzw. wiederzuerlangen
  • Postwachstum – die Umstellung von ökonomischer Expansion auf einen ökologisch und sozial gerechten »stationary state«, der mit selektiven Wachstums- und Schrumpfungsprozessen langfristig zurecht kommt
  • Suffizienz – nicht mehr haben wollen zu müssen als man möchte

Diese neuen Konzepte und Leitbilder sind notwendig, weil gerade die Anforderungen einer Nachhaltigen Entwicklung nicht mehr mit den herkömmlichen Ansätzen beantwortbar sind, die zu sehr auf technisch-instrumentelle Veränderungen fokussieren. Nachhaltigkeit impliziert aber einen kulturellen Wandel, der eine Pluralität im Denken, in den Methoden und Theorien erfordert.

Kernelemente einer transformativen Wirtschaftswissenschaft

Zwei Aspekte einer transformativen Wirtschaftswissenschaft tauchen immer wieder auf. Das ist zum einen der wachstumskritische Impuls. Die Wachstumsfrage oder besser: die Wachstumsfixierung in der wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion, vor allem in der Ausformung von Wirtschaftspolitik, wird in den Institutionen der Wissenschaft zu wenig kritisch reflektiert. Wenn aber die Entkopplung materiellen Wachstums von Lebensqualität und Wohlstand die entscheidende Frage des 21. Jahrhunderts ist und diese Entkopplung empirisch gesehen so schwer fällt; wenn wachstumsorientierte Politik dabei nicht mehr Wohlstand für alle, sondern mehr Instabilität für die meisten erzeugt; wenn gleichzeitig noch das wirtschaftliche Wachstum immer stärker ausbleibt; dann muss eine transformative Wirtschaftswissenschaft sich offensiv mit den Bedingungen und Möglichkeiten einer Postwachstumsökonomie auseinandersetzen – in Forschung, Lehre und Politikberatung.

Zum anderen wird sich die Pluralität der Gesellschaft und die Heterogenität ihrer Akteure auch in der Wissenschaft abbilden müssen, wenn sie relevant für Gesellschaft bleiben will. Das schließt die Beachtung der Tiefenwirkung von Diversität wie z.B. Geschlechterrollen und –wahrnehmungen auf wissenschaftliche, politische, ökonomische und kulturelle Wirklichkeiten ebenso mit ein, wie die Forderung nach einer stärkeren Öffnung wissenschaftlicher Wissensproduktion in die Gesellschaft im Rahmen von transdisziplinären Projekten mit Unternehmen, zivilgesellschaftlichen Organisationen, Vereinen und Verbänden, öffentlichen Verwaltungen und der Politik. Transformationswissen ist grundsätzlich transdisziplinäres Wissen.

Konsequenzen für die Lehre

Für die Ausbildung bedeutet das Programm einer transformativen Wirtschaftswissenschaft dreierlei. Entscheidend wird sein, die Lehre nicht nur wieder stärker problemorientiert und akteursbezogen zu gestalten, sondern sie zu öffnen für transformativ wirksame Praxisprojekte mit verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren. Dabei sind den Studierenden die entsprechenden akademischen Freiräume zu gewähren, um solche Projekte auch eigenständig durchführen zu können: Lernen in und durch die eigene Praxis. Das schließt auch eine Öffnung von Hochschulen hin zur hochschulexternen Öffentlichkeit ein und erfordert eine umfassendere Definition von »Schule« und wo Lernen eigentlich stattfinden kann. Eine transformative Hochschule wird so zu einem Lernnexus der Gesellschaft, ob die Lernenden immatrikuliert sind oder nicht.

Damit solche studentischen Transformationsprojekte in offenen Netzwerken mit der Gesellschaft auch funktionieren können, braucht es eine viel stärkere Vermittlung entsprechender transformativer Managementkompetenzen. Gerade ethische Grundlagen, Nachhaltigkeitsaspekte und ein breiterer Blick auf die Einbettung wirtschaftlichen Handelns in größere gesellschaftliche, kulturelle und ökologische Aspekte müssen dazu in allen wirtschaftswissenschaftlichen Studiengängen Eingang finden.

Schließlich braucht es für transformative Lehre auch einen anderen Ausgangspunkt. Nicht von gesellschaftlichen Problemen losgelöste Methoden oder etablierte Theoriebestände können dabei im Mittelpunkt stehen, sondern die uralte aristotelische Frage nach dem guten und verantwortbaren Leben. Nur wenn die Ausgangsfragen groß und bedeutend sind, können auch die Studierenden begeistert werden als aktive Transformateure den Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft hin zur Nachhaltigkeit mitzugestalten.

Transformation an der Karls

Die Karlshochschule kann hier eine Rolle als transformativer Akteur spielen. Vor allem ihr Fokus auf Internationalität, Interkulturalität und Diversität fehlt mir in der Debatte um Transformation bislang. Zwar wird globale Gerechtigkeit immer wieder eingefordert, aber es ist doch eine sehr deutsche Debatte, mit einem starken Fokus auf Forschung, Lehre und Politik in Deutschland. Als internationale Hochschule ist die Karls hier bestens aufgestellt, die globale Perspektive und die unterschiedlichen kulturellen Sichtweisen auf Transformationsprozesse und Nachhaltigkeit mit einzubringen.

In der Lehre geschieht dies bereits. Zum Wintersemester 2016 startet der Bachelorstudiengang »International Sustainability Management«. In unserem Management-Master gibt es die Vertiefung »Sustainability«. Beide Programme fokussieren stark auf Transformation, sind inter- und transdisziplinär orientiert und haben den Karls-typischen Fokus auf interkulturelle und Diversitätsaspekte in Wirtschaft und Gesellschaft.

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