tl;dr: Die Rolle transformativer Wirtschaftswissenschaft erstreckt sich erstens auf eine Gegenwartsdiagnose, zweitens auf die Reflexion bequemer Lebenslügen und drittens in der Begründung von Transformationsszenarien für verantwortbares Leben in einer nachhaltigen Gesellschaft.
Über 30 namhafte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland, Österreich und der Schweiz fordern in einem gemeinsamen Aufruf eine paradigmatische Wende der Wirtschaftswissenschaften. Mit dem Aufruf »Transformative Wirtschaftswissenschaft im Kontext nachhaltiger Entwicklung« wollen die Unterzeichnenden eine Diskussion über einen neuen »Vertrag« zwischen Wirtschaftswissenschaft und Gesellschaft anstoßen.
Einer der Mit-Autoren ist Prof. Dr. Niko Paech, Professor am Lehrstuhl für Produktion und Umwelt (PUM) an der Universität Oldenburg und Namensgeber der »Postwachstumsökonomie« im deutschsprachigen Raum. Mit ihm haben wir das folgende Interview geführt.
Herr Prof. Paech, was war Ihre ganz persönliche Motivation, bei diesem Aufruf mitzumachen?
Nicht erst seit der Finanzkrise von 2008 wird zusehends offensichtlich, wie desolat der Realitätsbezug der tradierten Wirtschaftswissenschaften ist. Weite Teile der BWL, mehr sogar noch der VWL sind zu einer Art Religion geworden, die ein eigentümliches Geheimwissen hütet, das in internationalen, doppelt referierten Zeitschriften zirkuliert, aber von den realen Herausforderungen moderner Gesellschaften entkoppelt ist. Auf diese Weise ist ein selbstreferenzielles System entstanden, das sich sowohl methodisch als auch normativ gegen andere Sichtweisen abschottet.
Warum braucht es denn aus Ihrer Perspektive eine transformative Wirtschaftswissenschaft für eine nachhaltige Entwicklung? Was läuft denn schief in der aktuellen Wirtschaftswissenschaft?
Eine nachhaltige Entwicklung wirft Fragen auf, mit denen herkömmliche Analysemethoden überfordert sind, insbesondere wenn mehr als nur ein technischer oder institutioneller, nämlich ein kultureller Wandel unabdingbar erscheint. Denken wir an veränderte Handlungsmuster oder Lebensstilaspekte. Und wie reagieren die Gralshüter darauf? Sie ignorieren schlicht, was sich nicht auf Basis ihrer Analyseinstrumente, etwa quantitativer empirischer Forschung, erfassen lässt. Das Motto heißt: Methode geht vor Inhalt. Um sich in den sakralen Journals profilieren zu können, suchen sich Wirtschaftswissenschaftler willkürlich jene Probleme heraus, die sie glauben auf Grundlage der von ihnen beherrschten Methoden elegant behandeln zu können. Sonst können sie keine Karriere machen. So werden fatalerweise systematisch jene Herausforderungen ausgeklammert, die überlebenswichtig sind.
Ist die Ansage »Transformation« denn noch Wissenschaft oder sind wir hier bereits in der Politik? Was ist dann aus Ihrer Sicht die Rolle von Wissenschaftler*innen?
Wie sollen politische Entscheidungsträger Transformation verstehen und gestalten können, wenn sie auf sich gestellt sind? Die Rolle der Wissenschaft erstreckt sich erstens auf eine Gegenwartsdiagnose, zweitens darauf, bequeme Lebenslügen, insbesondere wohlfeile Fortschrittsideologien kritisch zur reflektieren und drittens verantwortbare Transformationsszenarien zu begründen.
Welche Aspekte oder Elemente einer transformativen Wirtschaftswissenschaft sind Ihnen besonders wichtig? Worauf müssen wir hier achten?
Meines Erachtens lässt sich nur eine reduktive Anpassung zeitgenössischer Industriegesellschaften als konsistenter Entwicklungspfad darstellen. Die Bedingungen und Möglichkeiten einer Postwachstumsökonomie sind das Gebot der Stunde.
Zum Schluss eine Frage aus Hochschulperspektive: was muss in der Lehre geschehen, um nicht nur transformative Wirtschaftswissenschaft zu betreiben, sondern auch aktive „Transformateure“ einer nachhaltigen Gesellschaft auszubilden?
Zunächst werden neue Studiengänge vom Typ »Plurale Ökonomik« benötigt. Die Unvoreingenommenheit gegenüber vielfältigen ökonomischen Methoden und Zielen wäre wiederherzustellen. Innerhalb dieses Kontextes wären – nicht nur, aber auch – Praktiken der Lebensgestaltung und Versorgung innerhalb tragfähiger, also sehr enger ökologischer Grenzen zu thematisieren. Dies setzt voraus, wachstumskritische Konzepte zu inkludieren. Vor allem: Ökonomik muss als Mittel zum Zweck eines verantwortbaren Lebens verstanden werden, statt als Selbstzweck die sozial und ökologisch ruinösesten Entwicklungen zu legitimieren.
Herr Prof. Paech, wir bedanken uns für Ihre Antworten!
Transformation kann man übrigens auch an der Karlshochschule studieren: ab dem Wintersemester 2016 bieten wir einen neuen Studiengang zum Thema »International Sustainability Management« an.
Den Abschluss dieser Reihe am Montag, 25. Juli 2016 bildet eine Reflexion und Zusammenführung der wichtigsten Thesen der Interviews durch Prof. Dr. André Reichel, Professor für Critical Management & Sustainable Development an der Karlshochschule, der sich vor allem mit betriebswirtschaftlichen Perspektiven auf die Postwachstumsökonomie und dem Spannungsfeld zwischen Digitalisierung, Wachstumsgrenzen und Nachhaltigkeit befasst.