tl;dr: Nachhaltigkeitsprobleme können nur durch eine Pluralität von theoretischen Zugängen und der Berücksichtigung alternativer gesellschaftliche Leitbilder wie Resilienz, Postwachstum oder Suffizienz gelöst werden.
Über 30 namhafte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland, Österreich und der Schweiz fordern in einem gemeinsamen Aufruf eine paradigmatische Wende der Wirtschaftswissenschaften. Mit dem Aufruf »Transformative Wirtschaftswissenschaft im Kontext nachhaltiger Entwicklung« wollen die Unterzeichnenden eine Diskussion über einen neuen »Vertrag« zwischen Wirtschaftswissenschaft und Gesellschaft anstoßen.
Einer der Mit-Autoren ist Thomas Korbun, Geschäftsführer des Instituts für Ökologische Wirtschaftsforschung IÖW in Berlin. Mit ihm haben wir das folgende Interview geführt.
Herr Korbun, was war Ihre ganz persönliche Motivation, bei diesem Aufruf mitzumachen?
Angesichts der gekoppelten sozialen und ökologischen Krisen, ich denke an grassierende Umweltzerstörungen, den Klimawandel, den Verlust an Biodiversität oder die ungelöste globale Armutsfrage, sind weitreichende gesellschaftliche Veränderungsprozesse notwendig. Das gilt besonders für die Art und Weise wie wir Wirtschaften. Es ist die Aufgabe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, mit klugen Analysen und praktischen Handlungsvorschlägen zu diesen Transformationsprozessen beizutragen. Wir am IÖW haben das in das Zentrum unseres Tuns gestellt.
Ein Blick auf das Wissenschaftssystem zeigt, dass mehr Impulse in diese Richtung aus allen Disziplinen notwendig sind. Eine kritische Selbstbefragung der Forschung und der Lehre in den Wirtschaftswissenschaften war zuletzt spürbar, als die Finanz- und Staatsschuldenkrisen im Zentrum des öffentlichen Interesses standen; passiert ist aber letztlich wenig. Mit der Unterzeichnung des Aufrufs möchte ich dazu beitragen, die Debatte in der Wissenschaft fortzuführen. Interessante inhaltliche Anknüpfungspunkte ergeben sich für mich auch zu den Debatten um die Weiterentwicklung einer transdisziplinären sozial-ökologischen Forschung in Deutschland (vgl. dazu das SÖF-Memorandum 2012).
Warum braucht es denn aus Ihrer Perspektive eine transformative Wirtschaftswissenschaft für eine nachhaltige Entwicklung? Was läuft denn schief in der aktuellen Wirtschaftswissenschaft?
Eine transformative Wirtschaftswissenschaft kann einen wichtigen Beitrag dazu leisten, die für den Übergang in eine nachhaltige(re) Gesellschaft notwendigen Handlungsstrategien, Konzepte, Instrumente zu entwickeln. Dazu gehören auch andere Leitbilder des Wirtschaftens. Sie kann Transformationsprozesse wissenschaftlich begleiten und aktiv unterstützen. Um der Komplexität von Nachhaltigkeitsproblemen inhaltlich und methodisch gerecht zu werden, ist eine Pluralität von Themen, theoretischen Zugängen und Methoden zusätzlich zu der in der „Standard-Ökonomie“ verwendeten unerlässlich. Zudem muss ökonomisches Handeln stärker in seine sozialen und ökologischen Kontexte eingebettet werden.
Komplexe Nachhaltigkeitsprobleme halten sich nicht an Fachgrenzen. Die wirtschaftswissenschaftliche Forschung kann daher nicht darauf verzichten, relevantes Wissen oder Methoden aus anderen Disziplinen sowie Praxiswissen einzubeziehen. Ohne Zweifel bleibt eine von Neugier getriebene, grundlagenorientierte Forschung wichtig. Problematisch ist aber eine Entwicklung, die dahin geht, dass Ökonom*innen sich so weit von den relevanten gesellschaftlichen Kontexten entfernen, dass ihre Expertise immer mehr als irrelevant angesehen wird. Bei der Suche nach tragfähigen gesellschaftlichen Handlungsoptionen müssen wir auch tradierte Paradigmen der Wirtschaftswissenschaften kritisch hinterfragen und alternative gesellschaftliche Leitbilder wie Resilienz, Postwachstum oder Suffizienz stärker in den Blick nehmen.
Ist die Ansage »Transformation« denn noch Wissenschaft oder sind wir hier bereits in der Politik? Was ist dann aus Ihrer Sicht die Rolle von Wissenschaftler*innen?
Als Wissenschaftler*innen tragen wir eine besondere Verantwortung gegenüber der Gesellschaft. Unseren zentralen Beitrag sehen wir als IÖW darin, Nachhaltigkeitsprobleme mit einem transdisziplinären Forschungsansatz zu bearbeiten. Zudem informieren und beraten wir Akteure unabhängig und gemeinwohlorientiert zu wirtschaftlichen, sozialen, politischen und ökologischen Zusammenhängen und Handlungsoptionen. Wir ermutigen und unterstützen sie, nachhaltiger zu handeln. Als Wissenschaftler*innen sind wir so aktive Wegbereiter und Treiber gesellschaftlicher Veränderungsprozesse. Wesentlich dabei ist, dass Wissenschaftler*innen die konsequente Sicherung ihrer Unabhängigkeit gewährleisten können, mit einem hohen Qualitätsbewusstsein agieren, sich selbst reflektieren und offen für Dialog und Kritik an den eigenen Ergebnissen bleiben.
Das Ergebnis unserer Arbeit sind neue Sichtweisen auf gesellschaftlich brisante Probleme und alternative Handlungsoptionen zu ihrer Lösung. Welche Optionen durch staatliches Handeln umgesetzt werden, das zu entscheiden ist die Aufgabe von gewählten Politikerinnen und Politikern.
Welche Aspekte oder Elemente einer transformativen Wirtschaftswissenschaft sind Ihnen besonders wichtig? Worauf müssen wir hier achten?
Besonders wichtig finde ich es, Wissenschaftler*innen stärker für die Bedeutung transdisziplinärer Arbeiten zu sensibilisieren. In transdisziplinären Projekten werden Praxisakteure – wie Unternehmen, zivilgesellschaftliche Organisationen, Verbände, Verwaltung, Politik oder engagierte Bürger/innen –, deren Fachexpertise und Erfahrungswissen in den Forschungsprozess eingebunden. Somit wird die eigene Disziplin- und Fachgrenze überschritten. Damit dies gelingt, sind ein besonderes methodisches Vorgehen und entsprechende Erfahrungen nötig.
Innerhalb der Wirtschaftswissenschaften ist eine stärkere Pluralität von Forschungsansätzen erforderlich. An den Hochschulen und Wirtschaftsforschungsinstituten kommen wachstumskritische Ansätze in Forschung und Lehre beispielsweise kaum vor. Dabei hat etwa die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ in ihrem Schlussbericht mehr Forschungslücken als gesichertes Wissen konstatiert. Das verwundert, wo es doch um Überlebensfragen geht.
Zum Schluss eine Frage aus Hochschulperspektive: was muss in der Lehre geschehen, um nicht nur transformative Wirtschaftswissenschaft zu betreiben, sondern auch aktive „Transformateure“ einer nachhaltigen Gesellschaft auszubilden?
Eine Möglichkeit besteht darin, transdisziplinäre Projekte mit externen Kooperationspartner stärker in die Lehre zu integrieren und das gemeinsame Lernen mit den Praxisakteuren anzuregen und strukturell beispielsweise durch regelmäßige Lern- und Bewegungsräume abzusichern. Hierbei können neue Kooperationsmodelle zwischen Hochschulen und außeruniversitären Instituten dienen, die Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit der gesellschaftliche Praxis verfügen. So kooperiert das IÖW beispielsweise mit der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg (BTU) oder das ISOE mit der Universität Frankfurt.
Eine weitere Möglichkeit ist es, stärker Disziplinen übergreifendes Lernen an Hochschulen zu ermöglichen. Ein interessantes Modell dafür ist beispielsweise die Leuphana Universität Lüneburg. Doch auch jede einzelne Disziplin selbst sollte sich hinterfragen, was sie leisten kann, um ihren Praxisimpact zu erhöhen. In BWL und VWL bestehen zudem große Potenziale noch stärker auf die Vermittlung von transformativen Managementkompetenzen und ethischen Grundlagen hinzuwirken sowie Nachhaltigkeitsaspekte und entsprechende systemische Überlegungen insgesamt stärker in der Lehre und Forschung zu berücksichtigen.
Herr Korbun, wir bedanken uns für Ihre Antworten!
Transformation kann man übrigens auch an der Karlshochschule studieren: ab dem Wintersemester 2016 bieten wir einen neuen Studiengang zum Thema »International Sustainability Management« an.
Das nächste Interview in dieser Reihe veröffentlichen wir am Donnerstag, 21. Juli 2016. Unseren Fragen stellt sich dann Prof. Dr. Niko Paech, Professor am Lehrstuhl für Produktion und Umwelt (PUM) an der Universität Oldenburg und Namensgeber der »Postwachstumsökonomie« im deutschsprachigen Raum.