tl;dr: Die patriarchalen Grundannahmen der Wachstumsfixierungen in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik durch Einbeziehung weiblicher Lebenswelten überwinden.
Über 30 namhafte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland, Österreich und der Schweiz fordern in einem gemeinsamen Aufruf eine paradigmatische Wende der Wirtschaftswissenschaften. Mit dem Aufruf »Transformative Wirtschaftswissenschaft im Kontext nachhaltiger Entwicklung« wollen die Unterzeichnenden eine Diskussion über einen neuen »Vertrag« zwischen Wirtschaftswissenschaft und Gesellschaft anstoßen.
Zwei der Mit-Autoren sind Prof. Dr. Angelika Zahrnt und PD Dr. Irmi Seidl, die Herausgeberinnen des Buches »Postwachstumsgesellschaft. Konzepte für die Zukunft«. Mit ihnen haben wir das folgende Interview geführt.
Frau Prof. Zahrnt, Frau Dr. Seidl, was war Ihre ganz persönliche Motivation, bei diesem Aufruf mitzumachen?
Der an den Universitäten vorherrschende ökonomische Mainstream ist nicht in der Lage, die aktuelle multiple Krise (ökonomisch, gesellschaftlich, ökologisch, politisch) in seinen Theorien, Modellen und Forschungen adäquat zu erfassen. Entsprechend werden Folgerungen und Empfehlungen der Problemlage kaum gerecht. Auch fehlt dem Mainstream das Fundament, substantiell zur Realisierung z.B. der Klimaziele von Paris oder der SDG (Sustainable Development Goals) beizutragen. Weil der Aufruf dieses Unvermögen thematisiert und konkrete Anforderungen an eine Weiterentwicklung der Wirtschaftswissenschaften formuliert, haben wir ihn gerne unterschrieben.
Warum braucht es denn aus Ihrer Perspektive eine transformative Wirtschaftswissenschaft für eine nachhaltige Entwicklung? Was läuft denn schief in der aktuellen Wirtschaftswissenschaft?
Der ökonomische Mainstream hat sein paradigmatisches Fundament in der physikalischen Mechanik und arbeitet entsprechend mit Gleichgewichtsmodellen und –theorien. Die Physik hat sich selbst davon entfernt und weist zusammen mit der Biologie darauf hin: Reversibilität und längere Stabilität gibt es nicht. Dagegen werden Entropie, Emergenz und (starke) Unsicherheit wichtige Faktoren nicht nur der ökologischen, sondern gerade auch der gesellschaftlichen Entwicklung. Dies bedeutet, dass schon das Fundament des Mainstreams physikalische, ökologische und gesellschaftliche Gegebenheiten nicht abbildet und folglich auch kaum zu einer nachhaltigen Entwicklung beitragen kann. Der Mainstream verharrt in diesem Fundament, entwickelt auf dieser Basis anspruchsvolle Theorien und Arbeitsmethoden, versäumt es aber, das Fundament zu hinterfragen.
Ist die Ansage »Transformation« denn noch Wissenschaft oder sind wir hier bereits in der Politik? Was ist dann aus Ihrer Sicht die Rolle von Wissenschaftler*innen?
Wissenschaft ist nie wertfrei und sie hat immer technische und gesellschaftliche Entwicklungen geprägt und beeinflusst – oftmals gezielt und direkt, teilweise auch indirekt. Die Wirtschaftswissenschaft wird gerne als die Disziplin bezeichnet, die sich damit beschäftigt, wie knappe Ressourcen effizient alloziiert werden. Leider ist der Effizienzbegriff sehr eng. Alleine seine Erweiterung um ökologische Überlegungen führt zur Frage: unter welchen Bedingungen kann das Wirtschaften die Regenerationsfähigkeit knapper ökologischer und gesellschaftlicher Ressourcen sicherstellen. Diese Bedingungen betreffen z.B. auch gesellschaftliche Institutionen wie Recht, Eigentum, Waren-, Finanz- und Arbeitsmärkte. Und damit sind wir schon bei zentralen Transformationsfragen und -aufgaben. Erweiterte Forschungsaufgaben ergeben sich auch, wenn die wirtschaftswissenschaftliche Forschung und Lehre es als ihre Aufgabe annehmen, zur Realisierung eines „guten Lebens“, einer „lebensdienlichen Wirtschaft“, einer „(gender)gerechten Gesellschaft“, einer „nachhaltigen Entwicklung“ beizutragen.
Zur Rolle von Wissenschaftler*innen: Sie müssen in der Transformationsforschung wie in jeder anderen Forschung auch ihre normativen Grundannahmen aufdecken. Auf dieser Basis können sie dann nachvollziehbar beitragen, Systeme besser zu verstehen, mögliche Zielsetzungen zu benennen, und sie können darlegen, welche Transformationspfade es gibt und wohin diese führen könnten.
Welche Aspekte oder Elemente einer transformativen Wirtschaftswissenschaft sind Ihnen besonders wichtig? Worauf müssen wir hier achten?
Uns ist die Frage des Wirtschaftswachstum wichtig, weil die Wachstumsfixierung in Wirtschaft und Politik eine wirksame Umweltpolitik verhindert, die Wirtschaft bzw. Teile davon destabilisiert und damit auch soziale Probleme generiert. Dabei interessiert uns zunehmend das Thema Arbeit, denn das Streben nach Wirtschaftswachstum wird wesentlich vom Ziel getrieben, ausreichend Erwerbsarbeitsplätze zu haben. Doch die fortschreitende Technisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, gepaart mit einer niedrigen Abgabenbelastung auf Kapital und Ressourcen, aber einer hohen Belastung auf Arbeit, setzt gleichzeitig immer weiter und mehr Erwerbsarbeit frei. Dies wiederum stärkt den Ruf nach Wirtschaftswachstum.
Ein weiteres Thema, das uns wichtig ist, ist der Einbezug weiblicher Lebenswelten und Erfahrungen in die ökonomische Theorie und das Hinterfragen patriarchaler Grundannahmen in dieser Theorie. Das Konzept des Vorsorgenden Wirtschaftens sowie die feministische Ökonomie geben hierzu wichtige Anstöße.
Zum Schluss eine Frage aus Hochschulperspektive: was muss in der Lehre geschehen, um nicht nur transformative Wirtschaftswissenschaft zu betreiben, sondern auch aktive „Transformateure“ einer nachhaltigen Gesellschaft auszubilden?
Es ist eine breite und das kritische Denken fördernde Bildung nötig; ganz wichtig aber scheint uns auch, dass Studierende Freiräume und Unterstützung erhalten, selbst Transformationsaktivitäten zu entwickeln und erproben. Das können neue Form des Lernens und Zusammenarbeitens sein, konkrete Projekte, um eigene Wirkmächtigkeit zu erfahren – in den Wirtschaftswissenschaften z.B. durch ein Ausprobieren neuer Arbeitszeitmodelle oder unterschiedlicher Lebensstile, das Einführen von Sharing-Plattformen, Gründen von Initiativen und (Sozial-)Unternehmen etc., – und schließlich auch die Hinführung zu inter- und transdisziplinärem Forschen.
Frau Prof. Zahrnt, Frau Dr. Seidl, wir bedanken uns für Ihre Antworten!
Transformation kann man übrigens auch an der Karlshochschule studieren: ab dem Wintersemester 2016 bieten wir einen neuen Studiengang zum Thema »International Sustainability Management« an.
Das nächste Interview in dieser Reihe veröffentlichen wir am Montag, 18. Juli 2016. Unseren Fragen stellt sich dann Thomas Korbun, Geschäftsführer des Instituts für Ökologische Wirtschaftsforschung IÖW in Berlin.