Transformative Wirtschaftswissenschaft: Interview mit Uwe Schneidewind

tl;dr: Interdisziplinäre Wirtschaftswissenschaft als reflexive Instanz eines menschengerechten Fortschritts unter Postwachstumsbedingungen.

Über 30 namhafte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland, Österreich und der Schweiz fordern in einem gemeinsamen Aufruf eine paradigmatische Wende der Wirtschaftswissenschaften. Mit dem Aufruf »Transformative Wirtschaftswissenschaft im Kontext nachhaltiger Entwicklung« wollen die Unterzeichnenden eine Diskussion über einen neuen »Vertrag« zwischen Wirtschaftswissenschaft und Gesellschaft anstoßen.

Einer der Mit-Autoren ist Prof. Dr. Uwe Schneidewind, Präsident und wissenschaftlicher Geschäftsführer des Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie. Er hat zudem eine Professur für »Innovationsmanagement und Nachhaltigkeit« an der Bergischen Universität Wuppertal. Mit ihm haben wir das folgende Interview geführt.

Herr Prof. Schneidewind, was war Ihre ganz persönliche Motivation, bei diesem Aufruf mitzumachen?

Seit einigen Jahren machen wir uns für eine „transformative Wissenschaft“ stark, d.h. eine Wissenschaft, die sich zu ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bekennt und sich aktiv in gesellschaftliche Veränderungsprozesse einbringt. Diese Forderung stößt auf viel Resonanz. Um noch wirksamer zu werden, müssen sie aber für unterschiedliche Wissenschaftsfelder konkret gemacht werden. Die Wirtschaftswissenschaften bieten sich hier besonders an.

Warum braucht es denn aus Ihrer Perspektive eine transformative Wirtschaftswissenschaft für eine nachhaltige Entwicklung? Was läuft denn schief in der aktuellen Wirtschaftswissenschaft?

Das Ende klassischer Wachstumspolitik, wachsende Ungleichheit, ökonomisch getriebener Raubbau an der Natur: für alle diese Fragen bietet die dominierende Wirtschaftswissenschaft kaum Perspektiven. Sie müssen Ausgangspunkt für eine transformative Wirtschaftswissenschaft werden, die interdisziplinär und in enger Kopplung mit Akteuren in Politik und Gesellschaft sowie mit neuen Formen von Experimenten nach Perspektiven für eine menschengerechte Wirtschaft im 21. Jahrhundert zielt.

Ist die Ansage »Transformation« denn noch Wissenschaft oder sind wir hier bereits in der Politik? Was ist dann aus Ihrer Sicht die Rolle von Wissenschaftler*innen?

In modernden Wissensgesellschaften prägt die wissenschaftliche Wissensproduktion die politische Gestaltung. Dem müssen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stellen: Indem sie offen mit dieser »performativen« Wirkung ihres Tuns umgehen, normative Grundannahmen offenlegen und aus der Gestaltungsexperimenten mit politischen und gesellschaftlichen Akteuren über gesellschaftliche Transformationsprozesse lernen. So wird Wissenschaft zur reflexiven Instanz in modernen Wissensgesellschaften.

Welche Aspekte oder Elemente einer transformativen Wirtschaftswissenschaft sind Ihnen besonders wichtig? Worauf müssen wir hier achten?

Die Entkopplung von gutem Leben und Wohlstand von einem weiteren materiellen Wachstum erscheint mir als eine Schlüsselfrage für entwickelte Ökonomien. Wie kann menschengerechter Fortschritt auch unter Postwachstumsbedingungen gelingen? In der Beantwortung dieser Frage liegt ein Schlüssel für die globalen sozialen und ökologischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts.

Zum Schluss eine Frage aus Hochschulperspektive: was muss in der Lehre geschehen, um nicht nur transformative Wirtschaftswissenschaft zu betreiben, sondern auch aktive „Transformateure“ einer nachhaltigen Gesellschaft auszubilden?

Startpunkt wirtschaftswissenschaftlicher Ausbildung müssen nicht losgelöste Methoden, sondern wieder bedeutende wirtschaftswissenschaftliche Fragestellungen werden. Ausgehend von diesen Fragen gilt es dann auf ein breites Spektrum ökonomischer, aber insbesondere auch die Ansätze anderer Disziplinen zurückzugreifen. Insbesondere die Verbindungen der Wirtschaftswissenschaft zur Soziologie, Politikwissenschaft und Sozialpsychologie müssen sehr viel enger werden.

Herr Prof. Schneidewind, wir bedanken uns für Ihre Antworten!

Transformation kann man übrigens auch an der Karlshochschule studieren: ab dem Wintersemester 2016 bieten wir einen neuen Studiengang zum Thema »International Sustainability Management« an.

Das nächste Interview in dieser Reihe veröffentlichen wir am Donnerstag, 14. Juli 2016. Unseren Fragen stellen sich dann Prof. Dr. Angelika Zahrnt und PD Dr. Irmi Seidl, die Herausgeberinnen des Buches »Postwachstumsgesellschaft. Konzepte für die Zukunft«.

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