Transformative Wirtschaftswissenschaft: Interview mit Reinhard Pfriem

tl;dr: Transformative Wirtschaftswissenschaft als gebildete Beschwerde an die Politik und realisiert in akteursbezogenen Praxisprojekten für nachhaltigen Wandel.

Über 30 namhafte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland, Österreich und der Schweiz fordern in einem gemeinsamen Aufruf eine paradigmatische Wende der Wirtschaftswissenschaften. Mit dem Aufruf »Transformative Wirtschaftswissenschaft im Kontext nachhaltiger Entwicklung« wollen die Unterzeichnenden eine Diskussion über einen neuen »Vertrag« zwischen Wirtschaftswissenschaft und Gesellschaft anstoßen.

Einer der Mit-Autoren ist Prof. Dr. Reinhard Pfriem von der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Er war dort lange Jahre Inhaber des Lehrstuhls für Unternehmensführung und betriebliche Umweltpolitik. Ebenso ist Reinhard Pfriem einer der Gründer der Vereinigung für Ökologische Wirtschaftsforschung VÖW e.V. sowie des Instituts für Ökologische Wirtschaftsforschung IÖW in Berlin. Mit ihm haben wir das folgende Interview geführt.

Herr Prof. Pfriem, was war Ihre ganz persönliche Motivation, bei diesem Aufruf mitzumachen?

Uwe Schneidewind und ich haben schon vor zwei Jahren darüber nachgedacht. Und im Grunde war das schon die Motivation 1985, als ich mit anderen das Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) auf den Weg gebracht habe. Wie Karl Polanyi 1944 und Karl Marx schon fast 100 Jahre vorher festgestellt haben, ist es mit dem industriellen Kapitalismus gesellschaftlich zu einer Vorrangstellung sehr enger egoistischer und kurzfristiger ökonomischer Kalküle gekommen. Die wird spätestens seit dem 20. Jahrhundert vom Mainstream der Wirtschaftswissenschaften zu allgemeiner menschlicher Vernunft verbogen und verklärt. Demgegenüber braucht es nicht nur außerhalb, sondern insbesondere innerhalb der Ökonomik Theorien und Konzeptionen, die sich den wirklichen Herausforderungen der wirklichen Welt stellen. Zu deren besserer Zusammenarbeit und größerer gesellschaftlicher Wirksamkeit wollen wir beitragen. Mit dem Zwischenschritt der 8. Spiekerooger Klimagespräche im November 2016 wollen wir auf dieses Ziel hinarbeiten und natürlich auch weitere Unterzeichner/innen für unser Manifest gewinnen.

Warum braucht es denn aus Ihrer Perspektive eine transformative Wirtschaftswissenschaft für eine nachhaltige Entwicklung? Was läuft denn schief in der aktuellen Wirtschaftswissenschaft?

Nachdem jenseits einer kritischen Minderheit, darunter Nobelpreisträger wie Joseph Stiglitz und Paul Krugman, die Mainstream-Ökonomik weder willens noch in der Lage war, aus der internationalen Finanzkrise seit 2008 ernsthafte Lehren zu ziehen, sehen wir fast ein Jahrzehnt später: business as usual scheint hier die einzige Perspektive zu sein (there is no alternative). Mit der Verbiegung ihrer Behauptungen zu Grundsätzen allgemeiner menschlicher Vernunft legitimiert und befördert der wirtschaftswissenschaftliche Mainstream performativ eine Wirtschaftspolitik, die selbst in offenkundigsten Fällen ökologischer Schäden (Braunkohle, Autoabgase) einseitig kurzfristige einzelwirtschaftliche Interessen voranstellt, die die sozialen Verwerfungen zwischen Arm und Reich in inzwischen dramatischen Ausmaß vertieft und weiterhin keine Beiträge leistet zu mehr ökonomischer und politischer Souveränität der südlichen Erdhemisphäre.

Ist die Ansage »Transformation« denn noch Wissenschaft oder sind wir hier bereits in der Politik? Was ist dann aus Ihrer Sicht die Rolle von Wissenschaftler*innen?

Die performative Rolle des wirtschaftswissenschaftlichen Mainstreams ist ja selbst hoch politisch. Seine Vertreter/innen wirken direkt in Beratungsfunktionen wie indirekt durch Gutachten, Vorträge und Publikationen aktiv daran mit, die überkommene und längst gescheiterte Politik zu rechtfertigen. Unser transformatives Programm bedeutet im Gegensatz zum wirtschaftswissenschaftlichen Mainstream also keineswegs erst den Schritt in die Politik, sondern ein grundlegend anderes Selbstverständnis von Wissenschaft gegenüber der Politik: das der gebildeten Beschwerde, wie der US-amerikanische Sozialphilosoph Michael Walzer einmal die Hauptaufgabe von Wissenschaft so trefflich bezeichnet hat.

Der u. a. gegenüber Uwe Schneidewind mit seinen diesbezüglichen Aufsätzen geäußerte Vorwurf, transformative Wissenschaft schreibe der Wissenschaft ihre Ergebnisse vor, und die analoge Behauptung des Ökonomen Christian von Weizsäcker in einem halböffentlichen Dialog mir gegenüber, mit dem Bezug auf den WBGU-Begriff der Großen Transformation würden wir den Menschen und den Wissenschaften Vorschriften machen, gehen völlig fehl: es geht um nicht mehr, aber auch nicht weniger als darum, dass die von der Gesellschaft alimentierten Wissenschaften sich auf die wirklichen Herausforderungen der wirklichen Welt beziehen – zu welchen Lösungsvorschlägen sie kommen, darin sind sie völlig frei.

Welche Aspekte oder Elemente einer transformativen Wirtschaftswissenschaft sind Ihnen besonders wichtig? Worauf müssen wir hier achten?

Für mich steht ungefähr an erster Stelle, in Abkehr von den meisten wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Konzepten des 20. Jahrhunderts (einschließlich vieler kritischer) die Pluralität heutiger Gesellschaften und die Heterogenität ihrer Akteure wirklich konsequent anzuerkennen. Selbst in wohlmeinenden und kritischen Äußerungen und Publikationen ist noch allzu oft pauschalisierend von den Verbrauchern, den Unternehme(r)n usw. die Rede. Das ist im Grunde nicht besser als die Rede meines Vaters von „dem Russen“ nach seiner sowjetischen Kriegsgefangenschaft. Unsere vornehmste Aufgabe als Wissenschaftler/innen sollte doch sein, zu differenzieren. Und eben aus diesen Differenzen, aus Vielfalt wächst die Kraft zu sinnvollen Innovationen, die Möglichkeit der Veränderung.

Deshalb ist auch unser wissenschaftliches Ethos, diese Welt doch noch irgendwie besser zu machen, immer wieder hinsichtlich unserer eigenen normativen Annahmen kritisch zu hinterfragen, also das Risiko, unsere eigenen Ansichten zu den allgemein vernünftigen zu machen, selbstkritisch zu reflektieren.

Zum Schluss eine Frage aus Hochschulperspektive: was muss in der Lehre geschehen, um nicht nur transformative Wirtschaftswissenschaft zu betreiben, sondern auch aktive „Transformateure“ einer nachhaltigen Gesellschaft auszubilden?

Das erste ist die Bedingung des zweiten, richtig. Und deshalb als erstes der Hinweis, dass die aktuelle Berufungspolitik in den Wirtschaftswissenschaften gerade genau in die entgegengesetzte Richtung geht, an der Universität Oldenburg haben wir das in diesem Jahr schon erlebt. Und damit wird be- oder verhindert, was die richtige Antwort auf den letzten Teil der Frage darstellt: die wirtschaftswissenschaftliche Lehre nicht nur in ihren Inhalten hinreichend problem- und akteursorientiert zu gestalten, sondern über akteursbezogene Praxisprojekte den eigentlich ur-alten pädagogischen Grundsatz zu verwirklichen: learning by doing.

Herr Prof. Pfriem, wir bedanken uns für Ihre Antworten!

Transformation kann man übrigens auch an der Karlshochschule studieren: ab dem Wintersemester 2016 bieten wir einen neuen Studiengang zum Thema »International Sustainability Management« an.

Das nächste Interview in dieser Reihe veröffentlichen wir am Montag, 11. Juli 2016. Unseren Fragen stellt sich dann Prof. Dr. Uwe Schneidewind, Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt und Energie.

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