Transformative Wirtschaftswissenschaft für Nachhaltige Entwicklung

tl;dr: Wirtschaftswissenschaften sind grundlegend normativ und können sich bei Fragen einer Nachhaltigen Entwicklung nicht neutral abseits stellen.

Über 30 namhafte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland, Österreich und der Schweiz fordern in einem gemeinsamen Aufruf eine paradigmatische Wende der Wirtschaftswissenschaften. Da es neben unbestrittenen Erfolgen auch gravierende ökologische Zerstörungen, soziale Verwerfungen und ökonomische Krisen gibt, brauche es mehr denn je eine Wirtschaftswissenschaft, die insbesondere die Bedingungen und Möglichkeiten einer nachhaltigen Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft analysiert und hilft, diese zu verbessern. Mit dem Aufruf »Transformative Wirtschaftswissenschaft im Kontext nachhaltiger Entwicklung« wollen die Unterzeichnenden eine Diskussion über einen neuen »Vertrag« zwischen Wirtschaftswissenschaft und Gesellschaft anstoßen.

Mit dem Begriff der »Transformation« lehnt sich dieser Aufruf an das Gutachten des Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen WBGU von 2011 an: »Welt im Wandel: Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation«. Was meint hierbei der Begriff »Transformation«? Er unterscheidet sich von »Revolution« – einer gewaltsamen Änderung oder Bruch mit der Vergangenheit –  und auch von einem einfachen »Wandel« – einer Änderung im Rahmen des Bestehenden. Das Präfix »Trans« meint überschreiten, also eine Veränderung der Identität, eine Abkehr von den bekannten Mustern der Problemlösung in Politik, Wirtschaft und individuellem Verhalten. Transformation ist also ein »deep change« der kulturellen Identität, Weltbilder und Verhaltensweisen. Der Begriff »Große Transformation« wurde erstmals 1944 von Karl Polanyi in Bezug auf die Etablierung der modernen Industriegesellschaften als neuer Gesellschaftsordnung geprägt.

Das WBGU-Gutachten spricht von einem neuen Gesellschaftsvertrag für eine Nachhaltige Entwicklung, der vier Elemente beinhalten soll:

  • Der Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen für heutige und künftige Generationen als übergreifendes Ziel.
  • Der Gesellschaftsvertrag sollte eine globale Reichweite haben und sich nicht allein auf Nationalstaaten beziehen, weil zentrale Umweltwirkungen grenzüberschreitend sind.
  • Angesichts der ungleichen Verteilung von Ressourcenverbrauch, Entwicklungsniveau und Entwicklungsfähigkeiten in der Weltgesellschaft muss der Gesellschaftsvertrag Fairness, Gerechtigkeit und sozialen Ausgleich berücksichtigen.
  • Der Gesellschaftsvertrag verknüpft den gestaltenden Staat mit einer verbesserten Beteiligung der Zivilgesellschaft im Rahmen lokaler, nationaler und globaler Kooperation. Der Wissenschaft kommt dabei eine wichtige Rolle zu.

Gerade am letzten Punkt setzt der Aufruf an und fokussiert vor allem auf  die Rolle und Bedeutung der Wirtschaftswissenschaft bei der Ausformung moderner Gesellschaften und ihrer Nicht-Nachhaltigkeiten. Seit ihrer Gründung im 18. Jahrhundert haben die Wirtschaftswissenschaften ökonomische Prozesse nicht nur beschrieben, sondern auch katalysiert und beeinflusst. Die theoretischen Erkenntnisse der Wirtschaftswissenschaften sind eng verbunden mit gesellschaftlichen und politischen Handlungsoptionen und werden genutzt, diese zu legitimieren. »Damit die Wissenschaft ihrer Verantwortung gegenüber der Gesellschaft gerecht wird, muss sie ihre gesellschaftliche Wirkungskraft bewusst nutzen. Daher geht es uns darum zu diskutieren, wie Wissenschaft transformativ wirken kann, indem neue Handlungsoptionen geschaffen und implementiert werden«, so die Initiatoren Uwe Schneidewind, Präsident des Wuppertal Instituts und Vorstandsmitglied der Vereinigung für ökologische Wirtschaftsforschung, sowie Reinhard Pfriem, Professor an der Universität Oldenburg und Gründer des Instituts für ökologische Wirtschaftsforschung.

Die Unterzeichnenden rufen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dazu auf, die gesellschaftliche Wirkung ihrer Arbeit stärker zu reflektieren und eine aktivere und kritischere Rolle in aktuellen gesellschaftlichen Debatten einzunehmen. »Mit dem Aufruf wollen wir dazu einladen, die Diskussion mitzugestalten, wie die Wissenschaft stärker als bisher zu einer nachhaltigen Entwicklung beitragen kann«, so Schneidewind und Pfriem.

Nachdem die Karlshochschule ab dem Wintersemester 2016 einen neuen Studiengang zum Thema »International Sustainability Management« anbietet – Transformation kann man also studieren! – und der Studiengangsleiter, Prof. Dr. André Reichel, einer der Mit-Autoren des Aufrufs ist, wollen wir in loser Folge einige der Autoren interviewen und zu ihren Perspektiven auf das Thema einer »Transformativen Wirtschaftswissenschaft« für Nachhaltige Entwicklung befragen.

Den Auftakt macht Prof. Dr. Reinhard Pfriem, Professor für Unternehmensführung und betriebliche Umweltpolitik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Sein Interview veröffentlich wir am Donnerstag, 7. Juli 2016.

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