Unendlich Urlaub? Unendlich Home-Office? Zwischen unendlicher Selbstoptimierung und Selbstausbeutung steht die Kultur des (Selbst-)Vertrauens.

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Bäm! Bäm! Kurz hintereinander haben zwei ziemlich große Unternehmen ein deutliches Signal an ihre derzeitigen und zukünftigen Mitarbeiter gesendet. Inspiriert wurden sie vermutlich durch ein Unternehmen namens Netflix. Worum geht es? Um Freiheit und Selbstbestimmung. Auf den ersten Blick. Netflix und Virgin gestehen ihren Mitarbeitern so viel Urlaub zu wie sie wollen, sofern – und jetzt kommt der Stolperstein – die Leute ihre Aufgaben erledigen. In die gleiche Kerbe schlägt nun Microsoft Deutschland. Das Unternehmen will ihren Mitarbeiter völlige Freiheit bei der Wahl ihres Arbeitsortes lassen. Das feste Büro wird aufgelöst, keine Anwesenheitspflicht mehr im Office. Man darf kommen, muss aber nicht. Man erhält – wenn man denn mal kommt – flexible Arbeitsplätze und Konferenzräume zu Besprechungen. Möglichkeitsräume statt Zwangsanstalten.

Es ist vor allem interessant wie nun diese Meldungen unterschiedlich interpretiert werden. Im Grunde gibt es wie so oft zwei glasklare Fronten. Die eine Seite sieht wie gesagt in der Abschaffung der Büros eine notwendige Weiterentwicklung von innovativen und kreativen Unternehmen. Die Kritiker hingegen sprechen von der großen Gefahr der Selbstausbeutung. Feste Regeln und Verbindlichkeiten werden dadurch aufgelöst. Die Verantwortung für die Mitarbeiter wird abgeschoben auf die Mitarbeiter selbst, wobei allein dadurch der Druck erhöht wird. Hinzukommt die “Fuzziness” der neuen Situation, der neuen verlockenden Freiheit. Denn was heißt denn eigentlich “solange die Aufgaben erledigt werden”? Und seit wann macht man den Job alleine und ist nicht abhängig von der Leistung der Anderen? Durch diese Verlagerung der Verantwortung erhöht sich auch die Tendenz die eigenen Kräfte zu überschätzen und zu strapazieren. Die Aussicht auf sehr viel Freiheit und Urlaub dampft sich zusammen auf die totale Selbstausbeute. So mahnen die Kritiker der neuen Mitarbeiterpolitik.

Vermutlich liegt die Wahrheit wie immer dazwischen. “It depends” würde ich jedenfalls sagen, denn dieser gesamte Diskurs fokussiert sich oftmals ausschließlich auf die äußere Infrastruktur, die Rahmenbedingungen, die Technologie und konzentriert sich weniger auf den wirklich wichtigen Kern unternehmerischen Geschehens: Menschen, ihre Beziehungen untereinander, ihr gegenseitiges Handeln in Summe, kurzum: Es geht um die Unternehmenskultur.

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Unter Unternehmenskultur verstehe ich die Gesamtheit aller mit der Unternehmung verbundenen menschlichen Beziehungen, Handlungen und damit natürlich auch die Gesamtheit von Kommunikation. Eine Kultur ist stets fließend, zugleich aber auch in Teilen erstaunlich stabil. Eine Kultur kann immer nur als Momentaufnahme erfasst werden. Sie ist im Grunde nicht wirklich fassbar. Man kann die vergangene Kultur höchstens aus der schwammigen Erinnerung heraus analysieren und man kann die zukünftige Kultur imaginieren. Die gegenwärtige Kultur zu 100% zu erfassen ist unmöglich, denn sie hat sich bereits wieder verändert sobald man nach ihr greifen möchte. Manche Dinge ändern sich in einer Kultur rasend schnell, andere sind scheinbar regungslos, steif und dennoch am Ende nie in Stein gemeißelt. Auch das scheinbar stabilste Unternehmen kann irgendwann aus der Bahn geworfen werden. Nichts ist für die Ewigkeit, denn neue Menschen, neue Aufgaben, neue Ziele, neue Beziehungen sind ebenso endlich und bilden diese Kultur permanent neu. Man kann versuchen diese Kultur in bestimmte Richtungen zu lenken, zu schubsen, anzuschieben, in dem man seine eigene Haltung überprüft und verändert – eine Kultur absolut von Außen kontrollieren kann man jedoch niemals.

Ein wichtiges Kennzeichen für eine gute Unternehmenskultur, eine die fruchtbar erscheint, lösungs- und ergebnisorientiert agiert, also eine die irgendwie produktiv ist (und damit meine ich nicht zwangsläufig profitabel), zeichnet sich meines Erachtens vor allem durch ein hohes Maß an Vertrauen aus. Warum? Nun, wie der alte Herr Luhmann bereits sagte: “Vertrauen ist ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität”. Was heißt das? Ganz banal: Wenn ich jemanden vertraue muss ich mir weniger Sorgen machen. Wenn ich jemanden nicht traue so muss ich seine Arbeit mitmachen und erhöhe damit automatisch die Komplexität der Aufgabe.

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Arbeit im Jahre 2014 hat sich gegenüber des Arbeitsbegriffes aus Zeiten der Industrialisierung schon ziemlich verändert. Arbeit lässt sich schon lange nicht mehr in eindeutig trennbare Fließbandprozesse einordnen. Arbeitsteilprozesse müssen längst fließend ineinandergreifen. Abfolgen erfordern ein hohes Maß an Flexibilität und Improvisationsgeschick. Auch die beste Planung kann durch eine Unachtsamkeit über den Haufen geworfen werden. Wenn dann niemand improvisieren kann, sieht es düster aus. Wir verlassen also langsam aber sicher das Zeitalter der Industrialisierung. Ein Zeitalter das geprägt war von einfachen linearen Modellen, trivialen, maschinengeprägten Ansätzen (vorne rein, hinten raus) und roboterartigen Angestellten, die man beliebig auf dem Schachbrett hin und herschieben konnte. Die Anforderung im heutigen Job und damit auch für die heutigen Manager sind extrem komplexer und vielschichtiger.

Menschliche Beziehungen und ohre Spielarten nehmen eine immer größere Rolle ein, denn die Anforderung der Arbeitswelt von von heute basiert auf Interdependenz und Diversität, also gegenseitige Abhängigkeit unter vielschichtigen Individuen. Das bedingt gleichzeitig auch ein permanentes Ausloten woran ich bei dem anderen bin, also die Überprüfung und Pflege der Beziehung. Ja, man kann fast sagen Machtbeziehungen. Weder bin ich heute als Mitarbeiter ein klar separiertes Element in einem Gesamtprozess (Fließbandstation), noch ein erfolgreicher isolierter One-Man-Performer. Je komplexer eine Aufgabe ist, desto mehr WoManpower bzw. Teampower benötige ich um ein Ziel zufriedenstellend zu erreichen.

Teampower wiederum resultiert aus seiner eigenen Beziehungsarbeit. Und ich meine nicht die Art von Beziehung, bei der wir alle gemeinsam einen trinken gehen, Kletterspielchen machen und bestenfalls all unsere Freizeit zusammen verbringen. Beziehungsarbeit in Teams sehe ich eher als eine Form des gegenseitigen professionellen Vertrauens. Ich stelle Menschen ein, ich beauftrage sie, aus einem Vertrauen heraus, nämlich ein Vertrauen in die jeweilige Kompetenz um die anstehenden Aufgaben bestmöglich zu erfüllen. Menschen, die eingestellt werden weil die Chemie stimmt ist schön und gut, sobald aber die notwendige fachliche Kompetenz fehlt, wird die Beziehung so oder so dahin bröseln. Ich vertraue dem fachlichen Können und der eigenen Art und Weise die anstehenden Dinge zu lösen. Doch nicht nur das. Ich vertraue OBWOHL der andere auch scheitern kann und sicher auch scheitern wird. Menschen haben in ihrem Leben Höhen und Tiefen. Niemand kann zu jeder Zeit 100% Leistung abrufen. Beziehungen haben ihre Höhen und Tiefen. Am Scheitern mißt sich auch das Vertrauen. Wirft Scheitern Vertrauen um, so gibt es ein Organisationsproblem. Denn eine aufrecht erhaltende Arbeitsbeziehung ohne Vertrauen ist im Grunde genommen der absolute Worst Case und für die ORganisation extrem toxisch. Es hat etwas zombieartiges an sich. Ein lebender Untoter. Eine nichtgekündigte Kündigung. Das ist das Schlimmste was man vermutlich als Organisation machen kann. Die dauerhafte Duldung von Mißtrauen besetzten Beziehungen. Wer in Familien mit geschiedenen Nichtgeschiedenen reinblickt kann sich ungefähr ein Bild von der Kultur machen. Eine Kultur zwischen den Stühlen. Eine Kultur der Lähmung.

Überhaupt kann man den Wert von Vertrauen am ehesten verstehen, wenn das Vetrauen sichtbar gestört ist. Wenn Teams zerstritten sind, liegt es meist an irgendeiner Art von herrschendem Mißtrauen. Dieses dominiert fortan auch das Arbeitsergebnis. Die Produktivität wird sinken, zum einen weil die Komplexität steigt (das Team zieht nicht mehr an einem Strang) und zum anderen weil plötzlich unglaublich viel Zeit darauf verwendet wird Machtkämpfe zu bestreiten. Ja, witzigerweise nährt Mißtrauen noch mehr Mißtrauen und schlägt im schlimmsten Fall in Paranoia um. Selbst wenn man gar keine Absicht hat Machtkämpfe zu führen, so muss man sich erst einmal den stattfindende Machtkämpfen innerhalb einer Organisation entziehen können. Sicherlich gar nicht so einfach. Meine allererste Regel für Teams, die ich leite lautet: Wenn es ein Konflikt gibt, macht ihn offen und wir werden so lange darüber sprechen bis wir ihn geklärt haben. Offenheit ist für mich der Schlüssel zu Vertrauen. Alles was vor sich hin schwelt, gärt, getuschelt und genuschelt wird sind fiese kleine Viren des Geistes, die das allgemeine Mißtrauen schüren. Man beginnt irgendwann auch Gespenster zu sehen. Es entstehen Gerüchte und Unterstellungen. Nicht gut. Weg damit. Von vornherein. Raus mit allem was einen im Ansatz nicht behagt. Und erstaunlicherweise bin ich mit dieser Strategie, sofern sie mir gelang, immer sehr gut gefahren. Es schafft Ruhe und Frieden. Es schafft Freiräume um sich auf Aufgaben zu konzentrieren. Jedes unkanalisierte Genörgel und Getratsche lenkt von den eigentlichen Aufgaben ab und noch schlimmer, sie wachsen und wachsen und wachsen, wenn man sie nicht frühzeitig in die Hand nimmt.

Eine Atmosphäre des Mißtrauens führt auch dazu, das jeder nur noch für sich kämpft, also nicht nur das eigentlich gemeinsame Ziel aus den Augen verliert sondern dabei beiläufig den anderen auch Steine in den Weg legt. Die Organisation gerät aus den Fugen, aus dem Takt und verliert die allerwichtigste Eigenschaft für den unternehmerischen Erfolg: Positive, gezielte Resonanz durch geschlossenes Agieren. Resonanz im Sinne von Rhythmus. Resonanz ist so mächtig, das sie sogar ganze Brücken zum Einsturz bringen kann. Eine Organisation die sich nicht im Einklang mit sich selbst befindet ist angreifbar und äußerst fragil. Sie erzeugt eine Resonanz des Mißtrauens und richtet ihre geballte Kraft zerstörerisch auf sich selbst. Jede neue noch so kleine operative Krise nährt nicht nur die Komplexität der Aufgaben, es nährt zugleich die Resonanz des Mißtrauens.

Was hat das nun also mit Netflix, Mircrosoft und Virgin zu tun? Allein die Rahmenbedingungen führen nicht automatisch zu einem Ergebnis in die eine oder andere Richtung. Es kommt ganz darauf an was die einzelnen Mitarbeiter aus dieser neuen Rahmenbedingung machen. Denn nicht jeder kann tatsächlich mit dieser Art von Freiheit auch umgehen. Es gibt solche und solche Mitarbeiter. Es gibt Menschen die machen einen Job um einen Job zu machen und sich außerhalb des Jobs zu verwirklichen. Andere machen den Job um sich selbst genau in diesem Job zu verwirklichen. Manche können auf sich Acht geben, sehr viele können das nicht. Manche brauchen mehr Führung von Außen, manche können sich am besten selbst führen sofern Ziele und Werte klar kommuniziert und gelebt werden können. Viele sind vor allem aber auch gar nicht in der Lage sich selbst richtig einzuschätzen. Sich selbst wahrzunehmen. Sich zu emanzipieren. Sich zuzuhören und die scheinbar versteckten Signale der Psyche richtig zu deuten. Wann bin ich eigentlich erschöpft bzw. wie verhindere ich eine Erschöpfung? Wann brauche ich eine Pause? Ist es eigentlich wirklich gut und produktiv für mich und dem Unternehmen immer und überall erreichbar zu sein? Ist es gut für mich fest vorgeschriebene Zeiten zu befolgen? Jeder Mensch tickt anders. Manche schöpfen aus klaren Regeln erst ihre Freiheit (in dem sie beispielsweise feste Zeiten haben in densen sie nicht mehr erreichbar sein müssen), andere gehen an diesen Regeln zugrunde, weil diese Regeln sie einschränken, denn sie wissen längst für sich selbst was ihnen gut tut und was nicht und können emanzipiert handeln.

Aus all diesen Gedanken scheint sich ein ganz wichtiges neues Bildungs- und Kompetenzziel zu kristallisieren: Wir benötigen in Zukunft Menschen mit einer geübten und entwickelten Selbstwahrnehmung und Selbstachtung. Erst dann ist man vor der Selbstausbeutung durch zu viel Freiheit gefeit. Ich glaube jedenfalls schon lange nicht mehr an die alten Fließbandgesetze und Kommunikationsembargos der Industriekapitäne. Da hat die Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts, auf diesem eh schon viel zu kaputten Planeten, einfach besseres verdient. Oder etwa nicht?

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