Das heilige “Die NSA sieht alles” Mem

“Gott sieht alles!”, mit diesem einfachen Mem, konnten die selbsternannten Stellvertreter Gottes auf Erden, also der Klerus und ihrer von Gottes Gnadentum etablierten Herrschaftskumpels, der Adel, über Jahrhunderte hinweg erfolgreich Macht auf das einfache Volk ausüben. Ein einfacher und doch sehr effizienter psychologischer Trick, der wie folgt funktioniert: Eine Gruppe von Menschen behauptet, es gäbe eine Instanz, die man selbst zwar nicht sehen kann, die aber alles andere sieht und Gesehenes auch noch entsprechend bewertet. Nichtbeachtung von Regeln und Gesetze werden durch sie entdeckt und direkt oder indirekt bestraft – sowohl im Leben wie auch nach dem Tod (für letzteres hat man das Narrativ der “Hölle” erfunden).

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Der psychologische Mechanismus, der daraus entsteht ist jedenfalls hochinteressant. Unabhängig von der Frage ob Gott nun wirklich existiert oder nicht, haben wir mit dem obigen Beispiel nicht nur ein perfides Instrument der Macht und Herrschaft vor uns (durch offensichtlich konstruierte Asymmetrie von Wissen), es ermöglicht zum anderen auch erstmals so etwas wie menschliche Zivilisation und die Basis moderner Rechts- und Staatsformen. Denn erst durch das Wissen oder den Glauben an eine mögliche Allwissenheit kann sich überhaupt erst so etwas wie ein breites Über-Ich manifestieren: Das berühmte Gewissen, der moralische Kompass, also das eigene Wissen um das Einhalten oder gerade das Nichteinhalten ein von der Gesellschaft oder Machtelite formuliertes Ge- oder Verbot. In Zeiten ohne flächendeckende technologische Überwachung, ohne Vorratsdatenspeicherung, ohne Videoüberwachung, ohne Polizeiapparat oder überhaupt eines Staatlichen Konstruktes mit der Idee einer Gewaltenteilung, war es nicht gerade einfach die Menschen moralisch zu disziplinieren. In Zeiten von dezentralem Chaos und Willkür, also die Zeit von Thomas Hobbes und der Theorie des wölfischen Menschen, hatte man Angst von heute auf morgen gemeuchelt, beraubt oder vergewaltigt zu werden, da war das Verlangen nach einer Disziplinierung des Anderen, weil es ganz einfach Schutz bot, sicherlich nicht gerade gering.

Die damit verbundene Einschränkung der individuellen Freiheit und Triebe durch unsichtbare und sichtbare Kontrolle und damit die Sicherung von Macht und Herrschaft ist also nur eine Seite der Medaille. Der andere Effekt von “Gott sieht alles” und der Grund, warum so viele Menschen das womöglich unhinterfragt als “Gott gegeben” akzeptiert haben, war eben die Befriedigung des immensen Bedürfnisses nach Sicherheit und Stabilität. Neben dem Schutz vor Verbrechen war die angebliche Allwissenheit Gottes im Diesseits und Jenseits zum Beispiel auch ein Trost für alle diejenigen Menschen, die unter Ausschluß der Öffentlichkeit Opfer von Verbrechen wurden und dabei wenigstens am Ende noch die Hoffnung besaßen, daß der Täter später einmal garantiert für seine Sünden bezahlen würde. Der Preis der moralischen Unterwerfung, der Abgabe der individuellen Freiheit, der Eindämmung der Triebe, war und ist also auch gleichzeitig immer die Absicherung der eigenen Existenz. Macht oder Herrschaft versteht man meines Erachtensalso am ehesten, wenn man sie sich stets als Beziehung vor Augen hält. Eine Art Deal zwischen Menschen. Eine gegenseitige Vereinbarung zwischen Herrscher und Beherrschtem. “Adel verpflichtet” war demnach nicht einfach nur das Greenwashing der guten, alten Zeit. Herrschaft verpflichtete eben auch dazu gewisse Punkte der Vereinbarung als Herrschender einzuhalten, denn sonst drohte das Zerbrechen der Beziehung. Revolution als eine Art Schlussmachen. Beziehungsabbruch.

Das Prinzip der allgegenwärtigen Überwachung, das mit dem Mem “Gott sieht alles” fast schon bis zur Vollendung ohne jedwede materielle Maschinerie durchgeführt werden konnte (außer vielleicht einer Kanzel von der sie gepredigt wurde), läßt sich natürlich auch problemlos auf die weltliche Mikroebene und den konkret besiedelbaren Raum übertragen. Das materielle einleuchtende Sinnbild für dieses Prinzip lieferte uns der französische Philosoph Michael Foucault 1975 in seinem empfehlenswerten Werk “Überwachen und Strafen”, insbesondere in dem Kapitel “Der Panoptismus”. Foucault bedient sich wiederum bei Jeremy Bentham, dem Erfinder des ultimativen Gefängnisses, dem Panopticon.

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Das Panopticon kann man sich in etwas so vorstellen: Ein Ring aus Zellen, voneinander getrennt. In der Mitte des Ringes befindet sich ein Wachturm. Die Besonderheit: Ein oder zwei Wächter können hunderte und tausende von Insassen überwachen, ohne dabei selbst gesehen zu werden. Was jeder Insasse aber sieht und vor allem stets merken und spüren soll ist die Existenz der ultimativen Überwachung.

“Zu diesem Zweck hat Bentham das Prinzip aufgestellt, daß die Macht sichtbar, aber uneinsehbar sein muß; (…) Die Wirkung der Überwachung ist permanent, auch wenn ihre Durchführung sporadisch ist; die Perfektion der Macht vermag ihre tatsächliche Ausübung überflüssig zu machen; der architektonische Apparat ist eine Maschine, die ein Machtverhältnis schaffen und aufrechterhalten kann, welches vom Machtausübenden unabhängig ist; die Häftlinge sind Gefangene einer Machtsituation, die sie selber stützen.”

Foucault S.258

Und nun kommt der hochinteressante Teil, der an die oben beschriebene “Gott sieht alles” Mechanik erinnert:

“Das Panopticon ist eine Maschine zur Scheidung des Paares Sehen/Gesehenwerden; (…) Diese Anlage ist deswegen so bedeutend, weil sie die Macht automatisiert und entindividualisiert. Das Prinzip der Macht liegt weniger in einer Person als vielmehr in einer konzentrierten Anordnung von Körpern, Oberflächen, Lichtern und Blicken; in einer Apparatur, deren innere Mechanismen das Verhältnis herstellen, in welchem die Individuen gefangen sind.”

Foucault S.259

Totale Überwachung ohne Personen? Apparatur? Lichter? Oberflächen? Blicke? Mit diesen Schlagworten im Gepäck können wir den historischen und philosophischen Exkurs an dieser Stelle beenden und geschwind zurück in unsere Gegenwart sausen.

Am 6. Juni 2013 betrat der Prophet Edward Snowden die Bildfläche und verkündete uns über all unsere Kanäle in der Welt: “Sehet. Die NSA sieht und weiß alles!”.

Tja. Da stehen wir nun. Es wird sich wohl noch zeigen, welche Wirkung dieses Mem entfaltet. Werden wir weiterhin brav akzeptieren, das wir unter totaler Überwachung stehen, weil uns die Herrschaften gleichzeitig dafür mehr Sicherheit verschaffen? So lange wir so damit umgehen, hat Edward Snowden den USA einen unglaublich wertvollen Gefallen getan. Er hat das “Gott sieht alles”-Mem indirekt neu interpretiert und reinstalliert. Statt Gott sind es nun die Regierungsapparate der USA und ihren Verbündeten, die allmächtig auf uns blicken und nun in der Lage sind uns entindividualisiert zu disziplinieren. Edward Snowden ist wenn also wohl eher ein tragischer Held, denn seine Tat und sein Schicksal ist vor allem auch abhängig von unser aller Reaktionen. Und da ich derzeit kaum jemanden protestierend auf der Straße sehe, scheint der Deal mit den Herrschaften, die stille Vereinbarung, die tiefe Machtbeziehung, die gesamte Disziplinierungsmaschinerie noch ziemlich lange anzudauern. Ein Deal ist schließlich ein Deal.

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