Der Triumph des Moral Hazard

Ich muss gestehen, ich bin einem Irrtum unterlegen. Bisher gehörte ich auch zu den Leuten, die sich oft und gerne darüber beschwert haben, dass viele Menschen in der Finanzbranche aus der Krise der vergangen Jahre nichts gelernt haben. Inzwischen muss ich mich revidieren: Die betreffenden Personen haben schon etwas gelernt; und zwar, dass sie mit ihrem Fehlverhalten durchkommen. Moral Hazard, also rücksichtsloses Verhalten zulasten Anderer, lohnt sich; und insofern es ist auch konsequent, so weiterzumachen wie bisher.

Moral Hazard wurde schon recht früh als einer der wesentlichen Ursachen für die Finanzkrise identifiziert. Vorwiegend Investment-Banker hatten Produkte konstruiert und abgesetzt, die hohe Risiken für die Allgemeinheit implizierten, ihnen selbst aber große Bonuszahlungen bescherten. Als das Ganze dann platzte, mussten Kunden, Steuerzahler und Aktionäre die Rechnung bezahlen. Die Verursacher hingegen konnten fast immer ihr Geld behalten.

Ein Hauptgrund für den Erfolg rücksichtslosen Verhaltens liegt darin begründet, wie sich unser Wirtschaftssystem in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Es hat eine Entkoppelung der Verursachung von der Belohnung bzw. Bestrafung gegeben.

Früher funktionierte Kapitalismus (vereinfacht gesagt) so: Ein Unternehmer hat eine tolle Idee für ein neues Produkt. Er organisiert die Herstellung bzw. den Transport, auf die Kosten schlägt er eine Marge drauf, an der er verdient. Wenn den Kunden das Produkt gefällt, wird der Unternehmer reich. Wenn Kunden hingegen mit der Ware unzufrieden sind oder ein Fehlverhalten des Anbieters vermuteten, bleiben sie weg, der Unternehmer wird durch finanzielle Verluste bestraft.

Heute funktioniert Kapitalismus so: Unternehmer im klassischen Sinne gibt es kaum noch (nehmen wir mal Leute wie Steve Jobs oder Richard Branson als Ausnahme von der Regel). Dafür gibt es Konzerne. Die haben i.d.R. keine Ideen für tolle neue Produkte mehr. Deswegen werden bestehende genommen und so „verpackt“, dass sie neuer und besser aussehen als die alten. Dies ist nur möglich, indem man 1) entweder neue Produkteigenschaften hinzu erfindet, oder 2) indem man Schwächen oder Risiken, die hiermit verbunden sind, verschleiert. Akzeptiert der Kunde dieses Spiel, kann der Konzern eine hohe Marge durchsetzen und die Manager und Aktionäre werden reich. Funktioniert dies nicht, werden die Manager trotzdem reich, nur die Aktionäre werden arm.

Die Konsumgüterindustrie ist weitgehend den ersten Weg gegangen. Durch Werbung und durch differenzierende Eigenschaften wird für das Produkt ein „Zusatznutzen“ geschaffen, der sich aber im Wesentlichen in der Psychologie abspielt. Man will „Begehrlichkeiten wecken“, wie es einmal ein BMW-Vorstand ausgedrückt hat, die dann gegen entsprechende Bezahlung wieder bedient werden. Ob man hiermit nur die kleinen menschlichen Schwächen ausnutzt oder wirklich etwas besser macht, möchte ich einmal dahingestellt sein lassen, hierüber kann man geteilter Ansicht sein. Möglicherweise sollte man auch jeden Einzelfall anders einschätzen und eine generelle Bewertung daher vermeiden.

Die Finanzindustrie ist im Wesentlichen den zweiten Weg gegangen. Dies reflektiert der Boom in sog. Finanzinnovationen seit Mitte der 80er Jahre des vergangen Jahrhunderts. Diese Finanzinnovationen sind eigentlich wenig innovativ, sondern zumeist nichts andere als Umverpackungen bestehender Basisprodukte. Denn im Grunde genommen sind die Angebote der Bankbranche seit Jahrhunderten gleich: Finanzierung von Handel, Investitionen und Immobilien durch Kredite; das Einlagengeschäft; Vermittlung von Eigenkapital; Anlageberatung und Vermögensverwaltung; sowie Börsengeschäfte incl. Termingeschäfte.

Allerdings sind diese Standardangebote immer wieder veränderten Technologien und neuen rechtlichen Rahmenbedingungen angepasst worden. Dies führte gerade in den letzen Jahrzehnten zu vielen sinnvollen Neuerungen, wie z. B. Indexfonds, die Bankkunden Kosten gespart und vieles vereinfacht haben.

Mit dem Stichwort „Finanzinnovation“ ist allerdings eine ungute Entwicklung verbunden. Denn dies ist ein Marketingetikett, dass sich vor allem auf Produkte bezieht, die nicht aus der an sich natürlichen Anpassung von Finanzprodukten an neue Erfordernisse und Möglichkeiten entstanden sind, sondern um Kosten und Risiken zu verschleiern. So wird bezeichnenderweise dieses Wort fast nie in Verbindung mit Indexfonds verwendet, die ja eine wirklich nützliche Erfindung waren (und auf einen „klassischen Unternehmer“ – Jack Bogle – zurückgehen). Stattdessen bezieht sich dieser Terminus i.d.R. auf sogenannte „strukturierte Produkte“, die im Ergebnis zumeist die Komplexität erhöhen. Dies sind Finanzinstrumente, deren Wertentwicklung auf manchmal recht komplizierte Art und Weise mit derjenigen anderer Wertpapiere verknüpft ist. Oftmals sind diese auch mit einer derivativen Komponente versehen. Strukturierte Produkte erfreuen sich bei Anbietern von Finanzprodukten seit Jahren einer hohen Beliebtheit. Der Grund hierfür liegt in ihrer Intransparenz, denn diese ermöglicht die Einrechnung versteckter Gebühren. Unglücklicherweise wird aber auch das Verstecken von Risiken erleichtert.

Die strukturierten Produkte mit der größten Anziehungskraft insbesondere für sicherheitsorientierte Anleger waren vor 10 Jahren in den USA die sogenannten CDOs (Collateralized Debt Obligations). Sie bestanden aus Portfolios von festverzinslichen Wertpapieren, die i.d.R. schwer handelbar waren. Deswegen fasste man sie in einer Zweckgesellschaft zusammen, die wiederum selbst Anleihen unterschiedlicher Risikograde emittierte. Die Vorteile schienen offensichtlich: Illiquide Anlagen wurden handelbar gemacht, der Anleger konnte je nach seiner Risikobereitschaft eine Anlage mit einem deutlichen Zinsvorteil zur Staatsanleihe bekommen. Der Schönheitsfehler war: Die Risikosituation war in Wirklichkeit sehr intransparent; speziell zum Ende des US-Immobilienbooms ab 2006 landeten immer mehr schlechte Papiere bei den CDO-Zweckgesellschaften, ohne dass dies für die Käufer ersichtlich war. Was folgte ist bekannt: 2007 platzte die Blase, die CDOs wurden faul, immer mehr Banken gerieten in eine Schieflage und mussten gerettet werden. Als im September 2008 Lehman Brothers nicht mehr gestützt wurde, zerstörten die Schockwellen fast das gesamte Weltfinanzsystem.

Hank Paulson, damaliger US-Finanzminister und davor Investment-Banker alter Schule, wollte mit der Verweigerung einer Unterstützung von Lehman Brothers ein Zeichen gegen Moral Hazard setzen. Dies ist ihm gründlich misslungen. Denn gezeigt wurde vor allem eins: die Folgeschäden einer Bestrafung von Fehlverhalten im Finanzbereich sind viel größer, als wenn man Steuergelder zum Ausgleich von Zockerverlusten nimmt. Damit ist die Erpressbarkeit der Welt von skrupellosen Bankern eindrücklich demonstriert worden.

Nun mag man einwenden, dass es seit 5 Jahren eine Vielzahl von Initiativen und Neuregelungen gab, mit denen die Gründe der Finanzkrise angegangen werden sollten. Bei näherem Hinsehen entpuppen sich jedoch diese Maßnahmen im Wesentlichen als Versuche einer zukünftigen Schadensbegrenzung. Das eigentliche Problem, dass Banker einen wirtschaftlichen Anreiz haben, ihre Kunden mit intransparenten Produkten zu schädigen, ist nicht angegangen worden.

Die Oberflächlichkeit der Veränderungen wird klar, wenn man sie sich im Einzelnen betrachtet:

1) Regulierung

Eine übertriebene Deregulierung des Finanzsektors galt bei vielen als eine der Ursachen der Finanzkrise. Insofern erschien eine Konsequenz ganz klar: Mehr Regulierung. Seit 2008 gibt es weltweit eine immer weiter eskalierende Flut von Vorschriften, Handlungsanweisungen, Haftungsklauseln, Zulassungskriterien, Informationsblättern, Mindestanforderungen etc. Die einzige messbare Konsequenz ist allerdings bisher: eine extreme Bürokratisierung aller Abläufe und Aufblähung der Kosten bei Banken. Seriöse Finanzinstitute ziehen sich immer mehr aus bestimmten Geschäftsfeldern zurück, wie z. B. in Deutschland bei der Anlageberatung. Es scheint kaum mehr zumutbar, je Kundengespräch 7 Seiten Formular für ein Beratungsprotokoll durchzuackern. Konsequenz: Entweder Banken verstoßen gegen das Recht und verzichten ganz auf ein Protokoll, bzw. schieben dem Kunden ein Protokoll unter, das er nicht versteht; oder Banken halten sich an das Recht und quälen Kunden mit bürokratischen Prozeduren, bevor sie beraten bzw. etwas verkaufen. Da es Kunden i.d.R. recht einfach haben wollen, landen sehr viele dann beim Finanzschwindler, der sich nicht mit irritierenden Formularen oder Risikobelehrungen aufhält.

Die Eigenkapitalregeln von Banken wurden verschärft, um im Falle erneuter Probleme weniger auf Steuergelder zurückgreifen zu müssen. Da allerdings die Geschäftsmethoden im Grunde die gleichen geblieben sind, wurde die Gefahr von neuen Großschäden nicht gebannt, lediglich ihre Konsequenzen für den Steuerzahler abgemildert. Zudem basieren die Eigenkapitalregeln und die Berechnungen der Anforderungen nach wie vor auf dem Grundansatz der „risikogewichteten Aktiva“. Hierdurch werden Staatsanleihen bevorzugt und Unternehmenskredite diskriminiert. Speziell die Eurokrise hat gezeigt, wie fragwürdig eine solche Vorgehensweise ist; zum einen, weil Staatspapiere auch sehr riskant sein können; zum anderen, weil Anlegergelder so in die Staatskassen umgelenkt werden und der Wirtschaft nicht mehr für Investitionskredite zur Verfügung stehen.

Wenn man seriösen Finanzdienstleistern das Leben schwer macht, so kann dies nur heißen, dass die Aufsichtsbehörden sich anscheinend damit abgefunden haben, dass die Finanzbranche grundsätzlich unseriös ist. Nur dann macht es Sinn, sie so eng an die Kette zu nehmen wie möglich. Hinter den rigiden Eigenkapitalanforderungen steht vor allem das Bemühen, dafür zu sorgen, dass im Fall des nächsten Platzens einer Spekulationsblase die Folgen vom System selbst absorbiert werden können. Dies bedeutet eine Verschiebung des Haftungsrisikos vom Staat auf die Aktionäre. Dies ist zwar systemgemäß und daher prinzipiell richtig, lässt aber die potenziellen Täter, rücksichtslose Manager, nach wie vor außen vor.

2) Justiz

Es gab eine Reihe von Strafverfahren gegen Hedgefondsmanager und Investment-Bankern wegen manipulativer oder betrügerischer Geschäftspraktiken. Doch diese haben fast immer nur zu Geldstrafen geführt, die zumeist aber vom Institut (und damit im Endeffekt wieder von den Aktionären) oder gelegentlich auch von einer Managerhaftpflichtversicherung beglichen wurden. Gefängnisstrafen hat es aber nur extrem selten gegeben, wenn wie z. B. bei Berhard Madoff ein Schneeballsystem hinter dem Betrug stand. Nicht wenige Manager musten ihren Posten räumen, die meisten haben bei ihrem Abgang aber noch fette Abfindungen kassiert. Die Praxis des „goldenen Fallschirms“ hat dazu geführt, dass das Eingehen von Risiken auf Kosten von Kunden und Aktionären für die eigentlich Verantwortlichen nicht nur relativ risikolos ist, sondern sich sogar richtig lohnen kann.

Skin in the game“, man soll seine eigene Haut riskieren, lautet die Forderung von Nassim N. Taleb an die Finanzmanager, wenn sie Risiken eingehen. Ursprünglich war Investmentbanking ja auch in der Form von Partnerschaften organisiert. Wenn Manager hohe Risiken eingingen, setzen sie dann auch ihr Vermögen und das ihrer Partner mit aufs Spiel. Sie standen mit ihrem Kapital für verantwortungsvolles Handeln ein. Zu dieser Zeit gingen von diesem Geschäft keine Systemrisiken aus. Inzwischen stehen anonyme Aktionäre mit ihrem Kapital und Steuerzahler für die Fehler der Manager ein und sprechen so eine Einladung zur Selbstbedienung aus.

Es ist ein beliebtes Thema geworden, sich über zu hohe Managergehälter zu empören. Diese Aufregung geht aber am Kern vorbei. Warum soll ein Manager, der Leistung bringt und unternehmerisch gute Entscheidungen trifft, nicht viel verdienen? Ich sehe ehrlich gesagt keinen Grund. Ein Problem besteht allerdings, wenn die hohe Bezahlung eines Managers von seiner Leistung entkoppelt wird und er mittels Abfindungen sogar im Fall eines Versagens mehr bekommen kann als bei Erfolg. Dies kann nicht sinnvoll sein.

3) Politik

Ein besonderer Treppenwitz der Geschichte ist, dass die Politik in einigen Ländern die Einführung einer Finanztransaktionssteuer propagiert hat, um „die Verursacher der Finanzkrise an den Kosten zu beteiligen.“ Allerdings ist diese Abgabe nicht besonders hoch. Zudem bestraft sie im Wesentlichen die Bankkunden, also die Opfer der Finanzkrise. Die Dummen sind also wieder einmal die gleichen.

Was wirklich helfen würde, wären gesetzliche Regelungen, welche die persönliche Haftung von Bankmanagern regeln würden. Nach dem Platzen der Internetblase 2000 und in der Folge aufgedeckten Betrugsfällen sind in den USA einige prominente Manager wegen Bilanzfälschung zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden, was durchaus abschreckend gewirkt hat. Von den für die Finanzkrise verantwortlichen Top-Managern befinden sich alle noch auf freiem Fuß, fast alle können von ihrem Vermögen sehr gut leben.

4) Risikomanagement

Der Economist beschrieb in seiner Ausgabe vom 7. September 2013 als offensichtlichsten Grund der Finanzkrise „diejenigen Finanzmarktakteure, die vorgaben, einen Weg gefunden zu haben, Risiken auszuschalten, sie aber tatsächlich nur aus den Augen verloren hatten.“ (“the financers themselves … who claimed to have found a way banish risk when in fact they had simply lost track of it“). Banker haben also nicht nur ihre Kunden belogen, sondern vor allem erstmal sich selbst, weil sie mit pseudomathematischer Präzision Risikobewertungen ermittelten, die völliger Unfug waren. (Vgl hierzu auch den Karlsdialoge-Podcast über„Die große Risikoverwirrung in der Finanzwelt“)

Am Umgang der Finanzmärkte mit dem Thema Risiko hat sich dennoch seit Jahren kaum etwas geändert. Dies ist insbesondere erstaunlich, weil Nassim N. Taleb mit seinem 2008 erschienen Bestseller „Der schwarze Schwan“ die grundlegenden Probleme auch einer breiteren Öffentlichkeit vermittelt hat. Insbesondere die anhaltende Popularität der Kennzahl „Value at Risk“ spricht Bände: Sie unterschätzt massiv die Konsequenzen von seltenen Extremereignissen. Dies ist schon länger bekannt; eigentlich ist sie schon seit 1998 diskreditiert, als die Turbulenzen bei Schwellenländerverschuldung und die anschließende Pleite des Hedgefonds LTCM die Schwächen dieses Konzepts offenlegten. Daraus hätte man zwei Konsequenzen ziehen können: a) man verzichtet ganz auf sie, weil man Unsicherheit nicht für quantifizierbar hält, oder b) man verwendet modifizierte Konzepte wie Modified Value-at-Risk (MVaR) oder Conditional Value at Risk (CVaR), in denen einige Schwächen ausgebügelt wurden. Den ersten Weg bevorzuge ich, den zweiten Weg viele Risikomathematiker; wer nun am Ende recht hat, wird sich zeigen.

Was aber gar nicht mehr gehen sollte, ist, dass Value at Risk in seiner ursprünglichen Form verwendet wird. Genau dies ist aber nach wie vor die gängige und überwiegende Praxis im täglichen Risikomanagement, was übrigens auch von Regulatoren gefordert und unterstützt wird.

Ob diese unveränderte Vorgehensweise auf Dummheit, Ignoranz, Lernunfähigkeit oder bewusster Täuschung beruht, möchte ich einmal dahingestellt sein lassen. Tatsache ist aber, dass die Finanzbranche mit Risiken so unbedarft hantiert wie schon vor 5 oder vor 15 Jahren. Wenn ein Vermögensverwalter mit „professionellem Risikomanagement“ wirbt, kann dies inzwischen als ein Warnsignal für Kunden gewertet werden.

Das Geschäftsmodell der meisten Banken ist nach wie vor von Transaktionen getrieben. Sie können nur von Kunden profitieren, mit denen sie möglichst viele Umsätze machen, womit sie automatisch ein Interesse daran bekommen, das Kundenvermögen entweder zu riskieren oder zu vermindern. Dieser tiefsitzende Interessenkonflikt ist das Grundübel der Branche. Das ist zwar weithin bekannt, wird aber kaum infrage gestellt.

Interessenkonflikte gibt es auch in anderen Branchen. Gefährlich werden diese im Finanzbereich durch intransparente Produkte die fehlende Verantwortung der Manager. Können Sie sich vorstellen, dass ein Autohersteller bewusst oder fahrlässig minderwertige Bremsen in einen neuen Wagen einbaut? Und können sie sich vorstellen, dass Kunden beim Autokauf ein mehrseitiges Protokoll unterschreiben müssen, in dem sie u.a. versichern, dass sie sich der Risiken möglicherweise minderwertiger Bremsen bewusst sind und bereit sind, alle Folgen selbst tragen? Natürlich kann man sich das nicht vorstellen, und deswegen fahren wir alle mit einigermaßen sicheren Autos auf unseren Straßen herum. Wenn es dann doch zu Unfällen kommt, ist aber auch fast immer relativ schnell klar, dass diese auf Fehler von Autofahrern selbst zurückzuführen sind. Schlechte Produkte als Ausrede für eigene Dummheit sind bei geschädigten Kunden damit ebenfalls sehr selten geworden.

Man wird heutzutage kaum jemanden im Finanzbereich treffen – und das trifft sowohl für Schaltermitarbeiter, Anlageberater, Vorstände oder auch Aufsichtsbeamte zu – der nicht eingesteht, dass in dieser Industrie etwas Grundlegendes falsch läuft. Jeder kann unzählige Anekdoten über die Absurdität seines Arbeitsalltags erzählen. Nur äußerst wenige allerdings haben bisher Konsequenzen hieraus gezogen. Sie wissen, dass sie das Falsche machen, folgen aber unbeirrt weiter diesem Weg, weil sie einen starken ökonomischen Anreiz haben, dies so zu machen. Sie wissen schlicht und einfach nicht, wie sie sonst ihren Lebensstandard finanzieren sollen.

Ohne aber die Bereitschaft, Grundsätzliches infrage zu stellen, wird sich nichts ändern. Hier ist jeder gefragt:

• Sowohl private wie auch institutionelle Kunden verdrängen gerne Risiken und freuen sich über unrealistische Renditeversprechungen. Solange sie Berater bevorzugen, die nach dem Mund reden und ganz einfache, sichere und hochrentierliche Anlagen versprechen, landen sie automatisch bei Abzockern.

Banken dürfen ihren Erfolg nicht mehr daran messen, wie viel kurzfristige Umsätze sie mit einem Kunden machen, sondern vielmehr, inwieweit sie an einer langfristigen Kundenbeziehung partizipieren. Insbesondere dürfen keine Boni mehr dafür gezahlt werden, dass Mitarbeiter ihren Kunden Produkte mit versteckten Risiken andrehen. Dies ist keine Utopie, selbst für Großbanken: Der schwedische Finanzkonzern Handelsbanken hat bereits vor 40 Jahren das Geschäftsmodell geändert und vor allem auch das Anreizsystem umgestellt. Die Kreditausfälle lagen seitdem in Krisenzeiten weit unter Branchenschnitt. Das Management ist durch einen langfristigen Incentive-Plan an das Unternehmen gebunden, Bonuszahlungen gibt es nicht. Hiervon profitieren sowohl die Kunden (die Bank gewinnt regelmäßig in Kundenzufriedenheitsumfragen) wie auch die Aktionäre (der Aktienkurs hat sich in den letzten 10 Jahren trotz Finanzkrise mehr als verdoppelt). Dennoch hat sich diese Bank außerhalb Skandinaviens bisher nicht zum Model für andere Finanzinstitute entwickelt. Dies kann nur daran liegen, dass führende Banker für sich persönlich immer noch die größeren Vorteile von kurzfristiger Abzocke erhoffen; und ihren Aktionären dieses egal ist.

• Das Investment Banking ist „deal driven“, langfristige Beziehungen sind aufgrund der Natur des Geschäfts schwierig. Investment-Banken sollten deshalb wieder Partnerschaften mit persönlicher Verlustbeteiligung werden; oder Haftungszahlungen im Falle eines Scheiterns von Geschäften festgelegt werden können.

• Die Finanzaufsicht muss ihren Fokus verschieben: Es darf weniger darum gehen, die Folgen eines Finanzmarktschocks zu mildern, als darum, einen solches Ereignis zu verhindern. Die Regulierung muss deswegen weg von Verhaltensregeln und formalen Anforderungen. Stattdessen muss sie ihr Augenmerk darauf richten, dass a) die Transparenz von Finanzprodukten erhöht wird; b) keine finanziellen Anreize mehr für Fehlverhalten bestehen; und c) Verantwortliche für Fehlverhalten den Schaden nicht mehr auf Dritte, d. h. Aktionäre, Kunden oder Steuerzahler abschieben können, sondern selbst mit ihrem eigenen Geld und notfalls auch mit einem Gefängnisaufenthalt dafür gerade stehen.

• Angesichts der gestiegenen Eigenkapitalanforderungen müsste Bank-Aktionären klar sein, dass sie im Falle erneuter Probleme diejenigen sind, die im Wesentlichen die Zeche zahlen. Dennoch gehen sie in der Masse erstaunlich unkritisch mit Bank-Vorständen um. Wer sich nur daran orientiert, dass jeweils der nächste Quartalsgewinn gut ausfällt, toleriert implizit das Eingehen von Abzockpraktiken und unnötigen Risiken. Wenn die Aktionäre als Eigentümer der Banken von ihren Vorständen keine Änderungen beim Geschäftsmodell verlangen, haben diese auch keinen Handlungsdruck.

Solange sich all dies nicht ändert, lohnt es sich im Finanzbereich weiterhin, Risiken zu verstecken und ihre Konsequenzen auf Unbeteiligte abzuladen. Moral Hazard hat sich als Geschäftsprinzip etabliert, nicht trotz, sondern gerade wegen der Finanzkrise. Es gibt viel zu wenige positive Ausnahmen wie z. B. Handelsbanken. Dies ist schade und gefährdet nicht nur die Finanzbranche, sondern die ganze Wirtschaft. Banken haben volkswirtschaftlich gesehen eine wichtige Aufgabe, nämlich Kapitalgeber und Kapitalnachfrager zusammenzubringen. Dieser Aufgabe kommen sie im Moment eher schlecht als recht nach, weil sie einerseits die Kapitalgeber abzocken und andererseits bei den Kapitalnehmern nicht richtig zwischen seriösen Klienten und betrügerischen Hallodris unterscheiden können. Zudem brauchen wir in einem Land wie Deutschland mit einer zunehmend älter werdenden Bevölkerung erfolgreiche private Geldanleger, deren Vermögensbildung als Entlastung einer immer weniger finanzierbaren staatlichen Altersvorsorge dient.

Dieser Artikel erschien in leicht abgewandelter Form ebenfalls in „Mit ruhiger Hand“ Nummer 18 vom 7. Oktober 2013.

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