Stell dir mal folgendes Geheimdienst-System vor:
Das System besteht aus mindestens 1200 staatlichen Organisationen und über 1900 Privatunternehmen. Sie sind eng miteinander verflochten durch politische und wirtschaftliche Interessen. Das System bringt über 850.000 Top-Secret Geheimagenten in Lohn und Brot. 850.000 Menschen, die also allein dafür bezahlt werden müssen um dauerhaft ihre Klappe zu halten, allein schon weil sie Geheimnisträger der höchsten Stufe sind. Hinzu kommen Millionen von Angestellten und Beamten in den kooperierenden Behörden und Unternehmen, die abhängig sind von den Aufträgen des Systems, das mindestens über 70 Mrd. Dollar jährlich an Geldern erhält. Das gigantische System und sein Treiben selbst bleibt dabei so gut es geht immer im Verborgenen. Aus Sicherheitsgründen natürlich. Also zur eigenen Sicherheit. Zur Selbsterhaltung. Dieses System besitzt durch die nun bekannt gewordene Totalüberwachung per se einen maximalen Informationsvorteil, die maximale Asymmetrie. Wenn es also mal nicht reicht mit den Gehältern, bliebe jederzeit noch ein verlockendes Nebeneinkommen. An der Stelle kann man gar nicht oft genug den guten alten Lord Acton zitieren: “Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut“.
Ich wiederhole: Wir sehen hier ein System mit gigantischem ökonomischen Interesse, ohne Möglichkeit zur Kontrolle mit maximaler Macht im Sinne von Macht über Kommunikation bestückt.
Der ehemalige US-Präsident Dwight D. Eisenhower warnte in seiner Abschiedsrede 1961 vor einem millitärisch-industriellen Komplex, also einem System, das sich ausschließlich aus Selbsterhaltung und Profitmaximierung nährt, eine fatale Verquickung von politischen und ökonomischen Interessen. Einmal in Gang gesetzt generiert dieses System im Zweifel auch ein Angebot ohne Nachfrage oder konstruiert – ähnlich wie die sonstige Wirtschaft – eine künstliche Nachfrage für ein reales Angebot. Es gibt also ein System, das vom eigenen permanenten Wachstum profitiert, im Fall von Eisenhowers Warnung eine Industrie, die vom Wettrüsten und von Konflikten mit Waffeneinsatz profitierte und das heute noch unerlässlich tut. Jedes System kämpft um die Selbsterhaltung und gleichzeitig die Vergrößerung der eigenen Handlungsspielräume. Man nennt es auch Autopoiesis. Feinde des Systems sind demnach all diejenigen, die den Einfluss und das Einkommen des Systems schmälern möchten. Im Fall des Militärkomplexes also vermutlich alles was irgendwie mit Frieden und Waffenlosigkeit zu tun hat.
Der neue Komplex, der ebenfalls zeitgleich entstanden sein dürfte, sich aber erst in seinem ganzen Ausmaß durch den Whistleblower Edward Snowden offenbart hat, ist sozusagen der “Geheimdienst-Industrie-Komplex”. Wie oben anschaulich in handfesten Zahlen beschrieben (Alles Daten aus einer 2-jährigen Recherche der Washington Post), speist er sich aus einer großen Anzahl von Akteuren, deren Hauptinteresse zunächst darin liegt sich selbst zu erhalten und den eigenen Handlungsspielraum und somit den großen Kuchen, also das Budget, kontinuierlich zu vergrößern.
Wenn wir also von Dingen wie “Supergrundrecht auf Sicherheit” sprechen, müssen wir im gleichen Atemzug bedenken, ob wir nicht gleichzeitig irgendwann auch vor den geheimen, mit Macht bestückten Sicherheitsbehörden beschützt werden müssen? Oder wollen die Geheimdienste freiwillig irgendwann Stellen abbauen und auf Budget verzichten? Ich glaube nicht und ich sehe mindestens vier gefährliche Selbstläufer – ich nenne sie Ouroborus:
1. Der “Geheimdienst-Industrie-Komplex” ist verantwortlich für das gesamte Reporting der Bedrohungslage. Es berichtet an die Regierung wie gefährlich die Welt geworden ist, wobei das meiste für die Öffentlichkeit sowieso nicht bestimmt ist. Aus Sicherheitsgründen. Damit verwehrt man allerdings auch der Öffentlichkeit und der vierten Gewalt die Chance auf jedwede Falsifikation der Thesen. Je mehr Bedrohung das System berichtet, desto mehr Budget wird dem System zur Verfügung gestellt. Das wäre Ouroborus Nummer 1!
2. Dieses System ist nicht nur theoretisch in der wunderbaren und verlockenden Lage sich seinen eigenen Markt selbst zu erschaffen, es arbeitet auch permanent an den Marktregeln. Neue Rechtsgrundlagen, z.B. Patriot Act, sorgen dafür, dass die Arbeit des Komplexes noch reibungsloser verläuft und weniger rechtlichen Einschränkungen unterliegt, weil die Bedrohung angeblich massiv ansteigt und man noch schneller und härter eingreifen muss. Alles geschieht unter Ausschluss der Öffentlichkeit wohlgemerkt. Das wäre Ouroborus Nummer 2!
3. Durch die Ansammlung von geheimen Informationen und den Trägern dieser Geheimnisse verbaut man sich von vornherein eine mögliche Exit-Strategie durch die Regierung und die Öffentlichkeit. Wer kann schon 850.000 Whistleblower bändigen? Daher müssen quasi alle Geheimnisträger bis an ihr Lebensende bei Laune gehalten werden, eine andere Form der Disziplinierung ist bei der Größenordnung schwer vorstellbar. Diese 850.000 Agenten könnten nämlich jederzeit ihr Wissen an Terroristen oder noch schlimmer an alle Menschen weitergeben. Das wäre Ouroborus Nummer 3!
4. Die Geheimdienste verfügen nicht nur über die Hoheit der Informationsbeschaffung und -auswertung, sie verfügen mittlerweile zum Teil bereits auch über unmittelbare exekutive Gewalt. Bewohner dieses Planeten können durch Drohnen getötet werden sollte sich der Verdacht erhärten die Zielperson arbeite beispielsweide für Al-Kaida. Wer liefert diese Informationen und wer steuert die Drohnen? Noch viel spannender, wer steuert unsere Drohnen – wenn sie denn mal funktionieren? Das wäre Ouroborus Nummer 4!
Ich habe also wirklich weniger Angst vor dem Verlust meiner Privatsphäre. Ich bin weder paranoid und habe auch keine Angst vor einem Überwachungsstaat. Ich habe Angst vor dem gigantischen “Geheimdienst-Industrie-Komplex” innerhalb unseres angeblichen demokratischen Rechtstaates, der ihn auszuhöhlen droht um sich selbst zu erhalten und zu stetig zu nähren. Ich habe Angst, dass der Leviathan, dem ich bisher vertraut habe, den neuen Leviathan in seinem Inneren irgendwann niemals mehr bändigen kann.
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