Seit einigen Jahrzehnten ist ein grundlegender technischer und gesellschaftlicher Wandel zu verzeichnen. Immer mehr Menschen sind mit der Produktion von Daten, Information und Wissen beschäftigt. Soziologen sprechen auch vom Übergang von der Industriegesellschaft – die im Wesentlichen mit der Produktion von Dingen befasst war – hin zur Wissensgesellschaft, die vor allem mit der Produktion und Weiterverarbeitung von Daten aller Art befasst ist. Gelegentlich wird auch von der Informationsgesellschaft gesprochen, da eine permanente Zunahme der Information ursächlich für die Akkumulation des gesamten Wissens in einer nie vorher da gewesenen Art und Weise ist.
Highspeed Internet, mobiles Internet, Cloud Computing sowie feste Speicher mit fast unbegrenzter Kapazität erlauben die Nutzung und Weiterverarbeitung von Daten und Information nahezu jederzeit und überall zu sehr geringen Kosten und ohne signifikante Beschränkungen. Die unten abgebildete Grafik wurde schon vor einigen Jahren von den Journalisten Hilbert and Lopez der Washington Post entwickelt und zeigt nach wie vor sehr anschaulich, wie dramatisch sich zwischen 2000 und 2007 die Speicherkapazitäten für Information durch die zunehmende Digitalisierung verändert haben. Nach Berechnungen der IDC (International Data Corporation) verdoppelt sich derzeit alle 2 Jahre das internationale Datenvolumen.
Wissenschaftler, Internet-Blogger, Journalisten und Privatleute produzieren einen immer weiter anschwellenden Wust von Information und verbreiten diese sowohl über traditionelle Medien (wie Bücher oder Zeitschriften) wie auch über direkt über das Internet wie auch indirekt durch neue Kanäle wie E-Books. Soziale Netzwerke wie Facebook, LinkedIn oder StudiVZ erleichtern den Informationsaustausch mit Gleichgesinnten. Alles wird irgendwo gespeichert, möglicherweise kopiert, und damit auf unabsehbare Zeit dokumentiert.
Die enormen Datenmengen sowie immer ausgefeiltere Methoden, diese Daten z. B. mit Algorithmen auszuwerten, haben zum Schlagwort von „Big Data“ geführt. Hierbei handelt es sich um die Tendenz, so große Mengen an Daten zu sammeln, auszuwerten und zu verwalten, dass sie mit konventionellen relationalen Datenbanksystemen sowie Statistik- und Visualisierungsprogrammen nicht mehr verarbeitet werden können. Spezielle Techniken sind nötig, um mit Big Data umzugehen, die teilweise erst in der Entwicklung sind und bisher nur von wenigen großen Anwendern genutzt werden können.
Der grundlegend veränderte Umgang mit Information hat gravierende ökonomische Konsequenzen. George Akerlof hat in seinem berühmten Essay „A Market for Lemons“ den Begriff der asymmetrischen Information geprägt. Asymmetrische Information heißt, dass in einem Markt Anbieter und Nachfrager unterschiedliche Informationen besitzen. Für denjenigen mit einem Informationsvorsprung – fast immer der Anbieter – besteht oftmals ein finanzieller Anreiz, diesen Vorteil auszunutzen. Dieser ist insbesondere dann gegeben, wenn es sich um eine einmalige Transaktion handelt, wie z. B. der Gebrauchtwagenkauf, der Besuch eines Touristenrestaurants, etc. Wenn der Benachteiligte jedoch bemerkt, dass er hintergangen worden ist, reagiert er mit grundsätzlichem Misstrauen gegenüber allen Vertretern der anderen Seite, auch den ehrlichen. Dies wiederum kann zur Folge haben, dass insbesondere die ehrlichen Anbieter nicht mehr wettbewerbsfähig sind. Es kommt dann zu einem generellen Qualitätsverfall. Der Markt bricht zusammen, die unehrlichen Anbieter setzen sich durch.
Asymmetrische Information ist zentrales und oft unterschätztes ökonomisches Problem, weil sie die Funktionsweise von Märkten stark beeinträchtigen kann. In der neuen Wissensgesellschaft nimmt ihre Beutung trotz der immer größer werdenden Verfügbarkeit von Information aber immer weiter zu. Den für alle Menschen wird es grundsätzlich immer schwieriger, mit der Informationsflut umzugehen. Im Gegensatz zu den technischen Möglichkeiten, Information herzustellen, zu speichern oder auszutauschen, ist die Fähigkeit des Menschen selbst, diese Information zu verarbeiten, nicht gewachsen.
Während früher der Zugang zu Informationen an sich das Hauptproblem war, ist jetzt die richtige Organisation bzw. die richtige Ermittlung und Interpretation von Informationen zum Schlüsselproblem der Wissensgesellschaft geworden. Welche Daten sind relevant, und welche nicht? Welche Daten sind zuverlässig, welche sind fehlerhaft zustande gekommen oder sogar manipuliert? Wie kann man den Zugang zu Information der Öffentlichkeit, des Staates oder von Unternehmen zu Daten, die eigentlich privat sein sollen, unterbinden?
Damit hat sich auch das Problem der asymmetrischen Information gewandelt: Während früher vorwiegend eine unterschiedliche Verfügbarkeit von Information für die Asymmetrien verantwortlich war, resultieren diese heutzutage aus den verschiedenen Möglichkeiten und Fähigkeiten, Information zu auszuwählen und zu verarbeiten. Big Data verschärft diese neuen Asymmetrien noch weiter: Die Fähigkeit, Information auszuwerten, wird durch Big Data auch zu einer Frage der Größe und der technischen Kompetenz.
Die Wirtschaftssoziologen Beunza und Stark haben 2004 den Wandel im Umgang mit Information in Hinblick auf die Finanzmärkte folgendermaßen beschrieben: Die Aufgabe eines Finanzmarktakteurs ist nicht mehr, so viele Informationen wie möglich zu sammeln, „als ob das Problem der Datenmenge gelöst werden könnte durch immer mehr sammeln – stattdessen kommt es darauf an, das auszuwählen, was wichtig ist und Sinn aus dieser Auswahl zu machen. Je mehr Information Investoren gleichzeitig zur Verfügung steht, desto größer ist der Vorteil für diejenigen mit überlegenen Auswertungsmethoden.“ (“… – as if the problem of the volume of data could be solved by gathering yet more – but [to select] what counts and [make] sense of the selection. The more information is available to many investors simultaneously, the more advantage shifts to those with superior means of interpretation.”)
Die Online-Enzyklopädie Wikipedia ist zum Symbol für die Doppeldeutigkeit des modernen Umgangs mit Information geworden. Einerseits hat sie es durch ihre Offenheit geschafft, eine unvorstellbare Menge an Wissen zusammenzutragen und den verschiedensten Sprachen unzähligen Menschen weltweit zur Verfügung zur stellen. Andererseits zeigt sich Wikipedia gerade in Spezialgebieten immer wieder anfällig für Schlampereien und Manipulationen, weshalb dann auch über längere Zeiträume falsche oder veraltete Informationen verbreitet werden können.
Traditionelle Anbieter wie die Presse haben damit zu kämpfen, dass über das Internet viele Informationen umsonst zur Verfügung gestellt werden. Damit sinkt auch die Bereitschaft von Kunden, hierfür zu zahlen. Der hieraus resultierende Druck auf Umsatz und Kosten führt wiederum zu einem Qualitätsverfall bei vielen Presserzeugnissen. Gleichzeitig wird immer mehr Information produziert und mit aggressiven Methoden um die Aufmerksamkeit des Kunden gekämpft. Qualität wird durch Quantität substituiert, was wiederum den Auswahlprozess für die richtige und relevante Information beim Nutzer erschwert.
Es gibt zudem eine Inflation an tatsächlichen und selbst ernannten Experten, die über das Internet ihre Dienste anbieten. Oft ist bei diesen Experten nicht ganz klar, woher sie ihre Kenntnisse beziehen oder ob ihr Urteil nicht auch durch versteckte Interessen beeinflusst wird. Glücklicherweise erlaubt aber das Internet nicht nur das Aufkommen falscher Experten, sondern auch ihre zügige Entlarvung, was auch regelmäßig geschieht. Dies wiederum hat bei vielen Internetnutzern eine grundsätzliche Expertenskepsis verursacht, was auch dazu führen kann, dass echtes Fachwissen in der allgemeinen Kakofonie von Scheinexperten nicht mehr richtig wahrgenommen wird.
Ein weiteres Beispiel für den veränderten Umgang mir Information ist, dass Menschen immer stärker in ihren persönlichen Netzwerken mit anderen Menschen kommunizieren, denen sie persönlich vertrauen. Die Zugehörigkeit zu einem speziellen Netzwerk wird damit quasi zum Sortierkriterium für die Wahrnehmung von Information. Da sich diese Netzwerke überschneiden, hat dies zur Folge, dass sich Informationen auch sehr schnell verbreiten können, wenn bestimmte Nutzergruppen hiermit etwas anfangen können. Dies wiederum kann für Überraschungen sorgen. Einzelne Nachrichten, Videos oder Aufrufe können sich durch die Verbreitung in sozialen Netzwerken in Windeseile verbreiten und ganze soziale Bewegungen hervorrufen, wie z. B. die Ereignisse um den arabischen Frühling 2011 zeigten. Aber auch negative Meldungen können sich schnell und unkontrollierbar im Internet verbreiten. Beispiele hierfür sind verunglückte Werbekampagnen oder politisch unkorrekte Äußerungen von Firmen oder bestimmten Personen, die für eine Empörungswelle sorgten und die Reputation von einigen Betroffenen stark beschädigt haben. Zudem gibt es immer mehr Versuche, Informationsplattformen oder soziale Netzwerke zu manipulieren, etwa durch bezahlte Beiträge oder gekaufte „gefällt mir“ Stimmen bei Facebook.
Die traditionellen Medienkonzerne profitieren nicht unbedingt von der neuen Wissensgesellschaft. Denn die massenhafte Verfügbarkeit von Information hat auch das Geschäft hiermit stark verändert. Presse, Fernsehen und andere Anbieter von Information haben in diesem Umfeld ein Problem: Sie müssen ihr Geschäftsmodell an die neuen Gegebenheiten anpassen, was sich jedoch für viele als sehr schwierig erwiesen hat.
In der neuen Wissensgesellschaft werden Kunden vor allem bereit sein, für diejenigen Dienstleistungen angemessen zu bezahlen, die dazu geeignet sind, Asymmetrien in der Erfassung und Verarbeitung mit Information zu überwinden. Insbesondere folgende Märkte scheinen besonders interessant:
– Strukturierung von Datenmengen in Hinblick auf ihre Relevanz und Vertrauenswürdigkeit für den Nutzer;
– Erzeugung von spezialisierten Daten, deren Qualität und Zuverlässigkeit für den Nutzer kritisch sind;
– Schutz von sensiblen Daten vor Missbrauch.
Hinzu kommt, dass das Internet problemlos Grenzen überschreitet, es sei denn, eine Diktatur greift gewaltsam in den Informationsstrom ein. Ein globaler – und auch kulturübergreifender – Geschäftsansatz, der gleichzeitig aber auf regionale Spezifika eingeht, ist notwendig, um unter diesen Voraussetzungen erfolgreich zu sein.
Andererseits wird es auch Versuche von Staaten und Unternehmen geben, die am Erhalt von Macht bzw. Wettbewerbsvorteilen interessiert sind, Informationsasymmetrien zu erhalten oder neu aufzubauen. Insbesondere für große Organisationen eröffnet Big Data die Verführung, einen unsichtbaren Vorteil zu erlangen und diesen auch zu missbrauchen. Weitestgehende Transparenz ist daher unentbehrlich, damit die neuen Informationsasymmetrien nicht übermäßig ausgenutzt werden können.
Für den Artikel „Big Data, Wissensgesellschaft und asymmetrische Information“ wurden folgende Quellen verwendet:
George A. Akerlof: The Market for “Lemons”: Quality Uncertainty and the Market Mechanism; The Quarterly Journal of Economics, Vol. 84, No. 3. (Aug., 1970), pp. 488-500 (https://www.iei.liu.se/nek/730g83/artiklar /1.328833/AkerlofMarketforLemons.pdf); Beunza, D., and D. Stark (2004). “Tools Of the Trade: The Socio-Technology Of Arbitrage In A Wall Street Trading Room. Industrial and Corporate Change“ 13(2), 369-400. Zitat von Seite 369; Martin Hilbert & Priscila López: “The World’s Technological Capacity to Store, Communicate, and Compute Information”; Science 1 April 2011: Vol. 332 no. 6025 pp. 60-65 (http://www.sciencemag.org/content/332/6025/60.abstract); die Website von Martin Hilpert: http://www.martinhilbert.net/index.html, insbesondere http://martinhilbert.net/10HilbertLopezGrowthStorage.PNG als Abbildungsnachweis. Zur International Data Corporation (IDC) vgl. http://www.idc.com/. Zu Fehlern bei Wikipedia vgl. Oliver Klatt, „Schwindeleien auf Wikipedia: Diese Geschichten sind ein Witz“, Spiegel online, 29.5.2013 http://einestages.spiegel.de/external/ShowTopicAlbumBackgroundXXL/a28578/l0/l0/F.html.
Dieser Artikel basiert auf dem Text „Die asymmetrische Welt“, der in „Mit ruhiger Hand“ Nummer 15 vom 1. Juli 2013, wurde aber für den Zweck dieser Veröffentlichung deutlich abgewandelt.
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