Das Internet – Stachel des schlechten und guten Gewissens

Das Internet zwingt uns zur Dauerdebatte. Es ist der Stachel des guten und schlechten Gewissens – abseits der klassischen Gatekeeper. Das wirklich neue am Netz: Es ist das perfekte Beziehungsmedium um sein eigenes Ändern zu leben.

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Ja, ja. Das Internet und sein Blasen. Dem Netz wird ja oftmals zugeschrieben es entferne uns zunehmend von den Realitäten und Themen anderer Menschen. Die bösen Algorithmen würden dazu führen, dass wir bestimmte Themen außerhalb unseres eigenen Radius aka Interessengebietes einfach mal komplett ausblenden. So bleiben die Linken unter sich und die Konservativen schmoren ebenfalls im eigenen Saft. Sollte ich dann vom Algorithmus (dank Big Data Fütterung) eindeutig als “links” oder “rechts” identifiziert werden, wäre mein weiteres Verhalten im Netz mit entsprechenden Folgen behaftet. Dann würde ich nämlich bei Suchanfragen auch nur das finden, was meinen zuvor geäußerten Interessen entspricht, also grob vereinfacht meine linken oder rechten Haltungen zu einem Thema – der Rest wird ganz einfach ausgeblendet bzw. einfach viele Positionen weiter hinten im Suchergebnis auftauchen so dass es mein eigener Wahrnehmungsfilter ganz von alleine ignoriert. Soweit so verkürzt das politisch-dystopische Szenario rund um die Filter-Bubble-Hypothese.

Leider werden bei diesen Überlegungen immer wieder mindestens drei Fragen vernachlässigt:

1. Gab es wirklich jemals einen Zeitpunkt bei dem ideologisch gefestigte Strömungen nicht im eigenen Saft schmorten?

2. Gibt es neben den Algorithmen, die ein Individuum bedient, nicht noch so etwas wie miteinander interagierende aka kommunizierende Menschen?

3. Sind die bisher stark getrennten Lebenswelten von Menschen (Beruf, Freunde, Familie, Bekannte, Hobby, Partei etc.) nicht plötzlich durch soziale Massen-Netzwerke wie Facebook, Twitter und Google Plus sichtbare miteinander vermischt?

Ich möchte im Folgenden einige interessante Beispiele nennen, wie das Internet permanent unsere Blasen aneinanderdotzt, vereint und gegenseitig durchguckbar macht. Das alles geschieht tagtäglich im Kleinen und eben nicht unmittelbar im öffentlich Sichtbaren, also in den großen Medien. Christoph Kappes hat das Phänomen bereits wunderbar in seinem Artikel für die Publikation der Heinrich Böll Stiftung über die neue Öffentlichkeit wie folgt beschrieben (PDF S. 24):

Es sind nämlich vernetzte Räume, in denen normative Fragen mit individuellem Lebensbezug ausgehandelt werden, etwa die, ob man einen Säugling mit auf eine Messe nehmen sollte, welche Werbung als diskriminierend anzusehen ist und welchen Quellen man vertrauen kann. Sie behandeln damit gerade nicht die «große Politik». Die neue sozialkommunikative Dimension des Internets ist möglicherweise etwas Neues: eine «kleine Öffentlichkeit», in der Bürger sich gegenseitig Orientierung verschaffen, weil die Institutionen, die das bisher gewährleistet haben (Kirche, Schule, Parteien, etc.), an Kraft verlieren.

Doch weg vom etwas Abstrakten, hin zum Konkreten. Ich bin ja eher ein Freund von Geschichten:

Geschichte Nummer 1:

Als moderner Unternehmer und Landwirt (früher sagte man “Bauer”) möchte Herr S. im Zuge eines anhaltenden Diskurses über die Praktiken der Fleischindustrie Transparenz beweisen und den Verbrauchern (früher sagte man “Menschen”) einen Einblick in seine “Produktionsstätten” ermöglichen. Er tut dies, indem er eine Webcam in seinen Schweinestall installiert und alle 20 Sekunden ein Bild auf die Website des Landwirtschaftverbandes Schleswig-Holstein transportiert. “Seht her, so halten wir unsere Viecher, aus unserer Sicht vollkommen human, ordentlich und vermutlich sogar über dem gesetzlichen Mindesstandard.” Als Landwirt ist er der Ansicht, dass seine Art der Tierhaltung den Forderungen der Verbraucher nach Transparenz und Tierschutz entgegenkommt. So weit gestaltete sich also seine Blase. Doch mit der anschließenden, für ihn überraschenden Empörungswelle auf Facebook hat er dann wohl nicht gerechnet. Seine Vorstellung von einer verbraucherfreundlichen Tierhaltung prallte auf die Wahrnehmung eines herzzerreissenden Szenarios: Kleine Schweinebabys müssen durch kalten Stahl getrennt an den Zitzen ihrer Mutter saugen. Selbst die erste Nähe und Liebe zur Mutter wird ihnen von Anfang an auf dem Weg zum Schweinebraten verwehrt. Der transparente Schweinestall wird daraufhin zum Geburtsort eines alltäglichen Shitstorms (Die Medien kommen kaum noch nach über diese Stürme zu berichten). Das Interessante für mich ist aber: Die Debatte rund um Tierhaltung und Agraindustrie ist – mal wieder – entfacht. Eigentlich sind es mittlerweile eine Dauerdebatte, die dank Internet, tagtäglich neue Anlässe finden um weiteres Holz aufs Feuer zu werfen und das Feuer am lodern zu halten. Egal ob Bauer S. oder Dirk Nowitzki nun den Anlass geben.

Geschichte Nummer 2:

Die folgende Guerilla-Kampagne “Agrarprofit” hat sich auf einem deutschen Marktplatz abgespielt: An einem Stand verkaufen zwei junge Herren alltägliche Billig-Produkte wie Bananen, Eier oder Schokolade. Der Clou daran: Sie machen die Produktionsumstände der Billigprodukte transparent. So werden die jeweiligen Produkte mit Bildern und Kommentaren über Kinderarbeit, Legebatterien oder Pestizideinsätzen unterlegt. Deshalb sind diese Produkte so billig und das sei schließlich gut und vor allem fair für den Verbraucher. Das satirische Vorhaben wäre ohne Internet und soziale Netzwerke mehr oder weniger verpufft. Vielleicht hätte sich eine regionale Zeitung noch der Aktion gewidmet, das wäre wiederum im Archiv vergilbt und in Vergessenheit geraten. Mit diesem Video auf Youtube dokumentiert, konserviert und befeuert man aber auf Dauer die grundsätzliche Debatte rund um Billigprodukte und deren Produktionsweise. Man erschafft eine Dokument, das man jederzeit in den Einzeldebatten mit Freunden oder Bekannten herauszücken kann. “Siehste, genau hier kannst du den alltäglichen Billig-Wahnsinn erkennen”.

In einer unserer Soziopod-Episoden habe ich das Internet mal als Stachel des schlechten Gewissens bezeichnet, der sich permanent in unseren Nacken bohrt. Natürlich kann man nun argumentieren, dass die dauerhafte Beschallung mit Hiobsbotschaften und schlechtem Gewissen erzeugenden Meldungen irgendwann abstumpfend auf uns wirkt. Das war sicherlich in der Vergangenheit der Fall, als diese Aufgabe den großen Institutionen, wie Christoph Kappes sie beschreibt, also Kirche, Politik und Medien zufiel. Die Distanz zu diesen Botschaftern war nämlich auf Dauer viel zu groß und zum Teil viel zu bigott und daher stumpften ihre Botschaften uns natürlich zwangsläufig ab. Wenn wir aber von unseren unmittelbaren Freunden und Netzwerken immer wieder mit diesen Themen konfrontiert werden, so handelt sich um eine ganz andere Beziehungsqualität und -intensität. Die Themen erhalten plötzlich einen ganz anderen Zugang. Es schwingt plötzlich Vertrauen mit, denn wir kennen und respektieren ja den Meinungsträger, das potenzielle Vorbild.

Ein weiterer möglicher Grund für die Abstumpfung bei “bad news”: Wir hatten bisher keine Quelle der Alternativen bequem greifbar zur Verfügung, denn nach dem schlechten Gewissen folgt unmittelbar der Drang zu etwas Neuem, Gutem, und wenn man aber keine unmittelbaren Möglichkeiten aufgezeigt bekommt, schlägt das natürlich sehr schnell in Frust um. Heute haben wir mit einem Klick zig Alternativen zur Verhaltensänderungen im Angebot:

Du willst dein Fleischkonsumverhalten ändern, weil du den aktuellen Fleischatlas gelesen hast? Hier hast du eine vegane Challenge inklusive Tagesplan.

Du willst ab heute fairere Kleidung tragen? Hier, hör dir mal das Interview mit Sina Trinkwalder an, einer Powerfrau, die Klamotten in Deutschland unter ganz anderen Bedingungen produziert.

Du zweifelst am Kapitalismus und vermisst Experimente und Alternativen? Hör dem Herrn Lübbermann mal zu, wie er und sein Kollektiv es schafft 1 Mio Flaschen Cola anders zu produzieren und zu vertreiben und er unser System hacken will.

DAS ist heute der große Unterschied. Die Kombination aus schlechtem und gutem Gewissen. Die Befähigung sich mit einem Klick vom Saulus zum Paulus zu verwandeln. Nicht die Hiobsbotschaften frustrieren uns, nur die scheinbare Aussichtslosigkeit etwas zu verändern zieht uns runter und ließ uns bisher den Kopf in den Sand stecken.

Ich finde all diese Beispiele zeigen sehr schön auf wie wir uns in kleinen Netzwerken gegenseitig beeinflussen, wie wir nicht nur miteinander über verschiedene Themen streiten, sondern auch uns gegenseitig zu neuen Verhaltensweisen inspirieren. Das ist etwas, was große Institutionen von oben herab kaum leisten können. Das ist etwas, was auch kaum in öffentlichen Medien so darstellbar ist. Es kann nur im Kleinen erlebt und gelebt werden. Die großen Medien dienen dabei als Verstärker, weniger als “Agenda Setter”. Das ist das grundlegend “andere” am Netz. Es verbindet, verändert und prägt die Öffentlichkeit sozusagen über Bande. Das empfinde ich persönlich als eine unglaubliche gesellschaftliche Weiterentwicklung und es erklärt zugleich wundervoll warum autokratisch geprägte Herrschaftsstrukturen solch eine immense Angst vor diesem Medium haben. Es könnte sich am Ende nämlich tatsächlich heimlich, still und leise umfassend etwas verändern. Gottoderwerauchimmer steh uns bei!

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