Neoliberalismus im Journalismus? Wer hat’s erfunden? – Eine Replik an Frank Schirrmacher

Worum geht es in dem Artikel?

Ist die ökonomisierte Struktur nicht bereits die Wurzel für den Abbau von Qualitätsjournalismus? Spielt Technologie dabei nur die untergeordnete aber dennoch wirkmächtige Rolle eines Beschleunigungswerkzeugs? Bedient sie letztlich immer nur die Interessen des Nutzers und seiner jeweiligen Haltung? Wird es Zeit, dass sich der Journalismus radikalere Fragen stellen muss?

Frank Schirrmacher verpasst in seinem rundumschlagenden, wenn auch klug formulierten, Artikel mit Fokus auf die digitale Welt leider die große Chance wirklich mal an die Wurzel der Situation zu gehen – nämlich der Frage, ob die bisherige ökonomisierte Weichenstellung des Journalismus in den letzten Jahrzehnten – im Sinne von maximaler Wachstum durch Werbefinanzierung und Reduktion der Kosten – nicht zum eigentlichen langfristigen Ausbluten des Journalismus geführt hat. Also eine langfristige Zersetzung eines Qualitätsjournalismus, den Herr Schirrmacher für eine Gesellschaft als absolut unverzichtbar betrachtet. Ein Journalismus, der auch mal unangenehm über seine Werbekunden berichtet und nicht bedingt durch das eigene ökonomische Modell bereits lange vor dem Internet und Silicon Valley von unterschwelligen Zwängen und damit auch systemischen Filtern beeinflusst wird, wie ihn Noam Chomsky und Edward S. Herman in ihrem Propagandamodell anschaulich beschreiben.

Ist nicht gerade die Annahme “guter Journalismus” kann sich nur aus der ökonomischen Struktur von maximalen Gewinnen dauerhaft am Leben erhalten der eigentliche Irrtum? Und überhaupt, “am Leben zu erhalten”. Es kann ja auch nicht das dauerhafte Ziel im Sinne eines qualitativen Journalismus sein, ihn permanent retten zu wollen oder ihn vor dem Untergang zu bewahren. Sollte es nicht vielmehr das Ziel sein qualitativen Journalismus wachsen und gedeihen zu lassen, so wie wir es uns von unseren ökonomischen Strukturen wünschen?

Das neoliberale Gedankentum, das Herr Schirrmacher beschreibt, ist keine Erfindung des Silicon Valleys oder der Netzkultur. Die Gedanken einer besseren Machtverteilung – unter anderem durch die Verteilung von Meinungshoheiten auf vielen Schultern – haben lediglich den Etablierten mit neoliberaler Haltung (im Sinne von maximaler Ausreizung der Möglichkeiten zur Maximierung des individuellen Profits) und genügend Gestaltungskapital naiverweise nur das richtige Werkezug in die Hand gegeben, mit dem sie die Schrauben der Gewinnmaximierung noch enger anziehen können. So haben beispielsweise die von Herrn Schirrmacher beschriebenen Algorithmen die Systematik hinter den Aktienmärkten nicht erfunden, sondern sie einfach nur im Sinne der bereits vorhandenen Haltung unglaublich beschleunigt. Gerade die Diskrepanz zwischen der naiven Vorstellung das Internet mache die Welt zu einem besseren Ort und die gleichzeitigen Potenziale zur Erhöhung der Margen (durch Kostenreduktion etc.) zeigt doch, dass es weniger auf die Technologie als vielmehr auf die Haltung des Benutzers dieser Technologie ankommt. Nicht die Naivität der Netzutopisten allein trägt also zum heutigen Dilemma bei, es hat lediglich eine bereits bestehende ökonomische Haltung unglaublich verstärkt.

Probleme anzusprechen ist wichtig. Schuldige zu benennen nachvollziehbar. Aber so langsam könnten sich doch auch Journalisten (ja, ich weiss die sehen sich eher als Zeitzeugen als Zeitgestalter) mal ein paar lösungsorientierte Gedanken über ihre Zukunft machen. Mal ganz beiseite treten vom Modell in dem sie seit Jahrzehnten stecken, dass sie Jahr um Jahr prägt. Sich einfach mal Fragen abseits des eigenen Denkdiktats stellen:

Wenn man sich so sehr einen aufgeklärten, unabhängigen und demokratisch diskursorientierten Journalismus wünscht, muss man dann letztlich nicht die eigene ökonomisierte Struktur in Frage stellen und letztlich die gesamte Gesellschaft mit in die Verantwortung nehmen? Ist es der Gesellschaft und vor allem denen, die sich für sie bereits verantwortlich fühlen, nicht wichtig diese Art von Journalismus zu haben? Oder sind wir alle mittlerweile so abgestumpft, dass es uns egal ist ob die vorhandenen und nicht vorhandenen Geschichten von und über Coca Cola oder Apple immer auch indirekt vor dem Internet refinanziert wurden?

Interessieren würde mich beispielsweise, ob Herr Schirrmacher ein Modell wie das bedinungslose Grundeinkommen (wenn wir davon ausgehen, es wäre irgendwie real umsetzbar) als Chance für den Journalismus sieht. Ob er das öffentlich-rechtliche Modell als eine potenzielle Lösung betrachtet. Oder welche Ideen (denn nur mit Ideen kann es weitergehen) er sieht, die auch nur ansatzweise dazu führen könnten, dass sich die überall wahrgenommene aber sich ständig wiederholende Problem-Trance auflöst. Genau an der Stelle wünsche ich mir einen intensiveren Diskurs. Ein Austausch von Ideen ohne gleich mit Naivitäts- oder Ideologiekeulen zuzuhauen. Wie heisst es so schön: “Man muss das Rad nicht neu erfinden”. Das ist sicherlich der Fall wenn man auf Dauer in einer ausschließlich aus Rädern dominierten Welt leben möchte. Daher die Frage:

Quo vadis, Herr Schirmmacher? Quo vadis, Journalismus?

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