Du sollst dich nicht nach einer vollkommenen Lehre sehnen, sondern nach Vervollkommnung deiner selbst.
Hermann Hesse
Den Case “Red Bull Stratos” kann man aus ganz unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. So oder so, dieses Event war eine extrem gelungene Marketingaktion. Es zeigte sich wieder einmal, dass sich Marken in Zukunft mit eigenen produzierten Anlässen wesentlich erfolgreicher in den Köpfen der Menschen platzieren können als es Werbung heute, in den fragmentierten Kanälen und auf den billigen Werbeplätzen, auch nur ansatzweise leisten könnten. Dieser Case ist damit auch ein Signal für eine dahinsiechende Kommunikationsmethode: Das standardisierte Geschichtenerzählen im unterbrechenden Webeblock, begrenzt auf 30 oder 60 Sekunden, genannt “Reklame”. Echtes Markenerleben findet also “da draußen” statt und wird “hier drinnen” ganz von alleine, völlig freiwillig und in sämtlichen memetischen Ausprägungen weitererzählt. Die Kosten dieser “Kampagne” sind mit 50 Millionen ein Schnäppchen im Vergleich zu den aufwendigen Werbeschaltungen auf bekannten Wegen. Natürlich ist das Risiko überschaubarer, wenn man brav seine Werbeplätze und Banner bucht, aber der Erfolg eben auch: Er ist ebenfalls eher überschaubar.
Man könnte den Case nun auch vielfach ethisch/moralisch diskutieren und sich die Frage stellen: Warum sich Wissenschaft (ist es überhaupt “echte Wissenschaft”) von Marken finanzieren lässt oder warum gestandene Medien über dieses “Marken-Event” relativ unreflektiert berichten. Man könnte sich fragen, warum es früher Mondlandungen und Entdeckungen ganzer Kontinente gab, ohne dass dabei ein Markenlogo irgendwo flatterte und damit Waren verkauft wurden. Auf dem zweiten Blick wird man aber feststellen, dass solche Expeditionen immer abhängig von Drittmitteln waren. Man wird merken, dass Columbus nur deshalb Amerika entdecken konnte, weil es das Interesse gab eine bessere Handelsroute (Handel) nach Indien zu finden. Man wird merken, dass die Mondlandung ein wichtiger Bestandteil des Kalten Krieges war und das Verteidigungsministerium (Militär) ein unglaubliches Interesse daran hatte, dieses Event so breit wie möglich zu kommunizieren und vor allem am Ende einer der wichtigsten Markenlogo der damaligen Zeit auf dem Mond “flatterte”: Die Stars & Stripes der USA.
Natürlich gibt es immer sinnvollere Investitionsmöglichkeiten. Aber die entscheidende Ergänzung zur Frage der Sinnhaftigkeit wird meist weggelassen, nämlich “sinnvoller ALS WAS?” und “sinnvoller FÜR WEN?”. Ist “Red Bull Stratos” sinnvoller als 50 Millionen direkt in die Produktion und Schaltung eines Werbespots zu investieren? Aber ganz bestimmt – wenn man nicht gerade aus der Perspektive einer klassischen Werbe- oder Mediaagentur argumentiert. Das Event war offensichtlich spannend und unterhaltsam. Es war offensichtlich der Rede wert. Ist “Red Bull Stratos” sinnvoller als 50 Millionen direkt in die Krebsforschung zu investieren? Wahrscheinlich nicht. Wir, das Publikum, geben doch die entscheidenden Signale an das Unternehmen. Wir signalisieren, was wir gut finden und was wir wertschätzen. Ich wette meinen Arsch darauf (Pardon my French), dass eine Investition in die Krebsforschung auch nicht ansatzweise so viel positive Aufmerksamkeit eingefahren hätte, wie dieser spektakuläre Sprung. Und damit kommen wir zu einem entscheidenden Punkt: Gesellschaftliche Verantwortung ist keine Einbahnstraße.
Mit jedem Klick, mit jedem “Like”, mit jeder der jährlich ungefähr 4 Mrd. verkauften Dosen beteiligen wir als Käufer und Publikum uns immer auch automatisch an der gegenwärtigen Ethik des Unternehmens. Im Zeitalter der vernetzten Informationen wird die Ausrede “das habe ich doch nicht gewusst” immer unwahrscheinlicher. Einmal den Markennamen bei Google eingeben und schon erhalte ich als mündiger Konsument einen Überblick über die jeweilige Sündenkartei des Unternehmens. Nun stehe ich als Wissender in der Verantwortung: Kaufe ich das oder kaufe ich das nicht? Berichte ich darüber oder nicht? Investiere ich darin mein Geld oder nicht? Ist es mir das wert oder nicht?
Ich bin nicht unbedingt ein Freund von neoliberalem Geschwätz, aber ich denke schon es täte in diesem Zusammenhang der Gesellschaft mal ganz gut, wenn sie sich über die Folgen ihres Konsums etwas anders bewusst werden würde. Wenn ein Kauf oder eine Empfehlung nicht nur als einfache Transaktion, sondern eben auch gleichzeitig als Zukunftsinvestition in die jeweilige Unternehmenspolitik der entsprechenden Firma betrachtet wird. Man ist also weniger Konsument als vielmehr Investor und mit diesem Rollentausch entsteht vielleicht auch eine andere Einstellung zum Handel. Daraus resultieren nämlich sehr simple Fragen: Wem gebe ich mein Geld? Wem schenke ich meine Aufmerksamkeit? Sind es billige Discounter ohne mit uns übereinstimmende Ethik? Sind es profitorientierte Konzerne mit umfangreichen CSR-Programmen und einer attestierten Doppelmoral, die aber wenigstens irgendetwas irgendwohin zurückgeben? Oder findet man tatsächlich Non-Profit-Unternehmen, die tatsächlich rundherum verantwortungsbewusst handeln, dabei eben aber auch ihren entsprechenden Preis haben, für die ich als Konsument eventuell auf andere Dinge verzichten müsste?
Ich weiß, diese Entscheidungen sind zusätzliche Entscheidungen und es war in der Vergangenheit immer so schön bequem die Entscheidung anderen zu überlassen und dabei einfach nicht zu wissen, wie das Fleisch auf den Tisch kommt oder mit welchen Farben das glänzende Plastikspielzeug, welches unsere Kleinkinder in den Mund stecken, bestrichen wurden. Je mehr wir Konsumenten uns aber darüber Gedanken machen und uns darüber austauschen und je mehr wir unsere Kaufentscheidungen von diesen Kriterien abhängig machen, desto eher müssen Unternehmen in Zukunft darauf reagieren. Geld und Gesetz ist die Sprache, die Unternehmen am ehesten verstehen. Nur durch die bewusste Verteilung von politischer Macht (Regulierung) und finanzieller Kraft (Umsatz) können Systeme wie Unternehmen geformt und gelenkt werden. Und selbst wenn es bereits jetzt Unternehmen gibt, die wirklich überzeugt sind von ethischer Verantwortung, so sind sie doch gerade auf die Belohnung, auf die Investitionen der Konsumenten angewiesen. Denn die ganze vorbildliche ethische Haltung nützt den handelnden Unternehmen doch nichts, wenn sie am Ende ihre Rechnungen nicht bezahlen können.
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