Die vernetzte Gesellschaft: Die digitalisierte soziale Kontrolle

Nicht die Zivilisation ist das eigentlich fest Bestehende, sondern der sich verändernde Zwang zum Selbstzwang und das Erlernen individueller Selbstregulierungen im Zusammenleben mit anderen Menschen.

Hermann Korte in “Soziologie” zu Norbert Elias “Über den Prozeß der Zivilisation”

Täglich häufen sich die Symptome einer sich im Wandel befindenden digitalisierten Zivilisation. Dazu zwei aktuelle Beispiele:

Beispiel 1 aus den USA:
Vermutlich entscheiden die Sensoren und Fühler des Internets die diesjährige Präsidentschaftswahl in den USA. Der Kandidat der Republikaner wähnte sich in Sicherheit, als er vor einem Kreis von edlen Wahlkampfspendern Klartext gesprochen hat. Dumm nur, wenn einer der Anwesenden die Äußerungen per Video dokumentiert und dem linksliberalen Magazin Mother Jones zugespielt hat, welches das Video umgehend auf ihrem angedockten Blog publiziert hat. Die entsprechende Medienkaskade nahm ihren Lauf. Auf die breite Öffentlichkeit dürften die Worte von Mitt Romney beleidigend und abfällig wirken, da er unter anderem fast die Hälfte der amerikanischen Bevölkerung mit Sozialschmarotzern gleichsetzt. Das passt wunderbar zu seinem bisher kolportierten Image als skrupelloser Heuschreckenkapitalist. Nun wird es indes spannend, ob und wie sich die Umfragewerte durch die Veröffentlichung dieses Dokuments verschieben.

Wichtig an dem Beispiel ist folgendes: Eine Person wähnt sich in einem geschützten Raum um Dinge zu sagen, die sie sonst nicht in der Form überall so sagen würde.

Beispiel 2 aus Deutschland:
Julia Schramm, Verfechterin von zum Teil radikalen Thesen bezüglich einer Post-Privacy-Gesellschaft und Mitglied der Piratenpartei erhielt von ihrem Verlag vermutlich 100.000 Euro Vorschusshonorar für ihr Buch “Klick mich!”. Schramm setzte sich, wie die Piraten auch, für einen anderen Umgang mit dem Thema “geistiges Eigentum” ein. Aus einer Audio-Aufzeichnung heraus entnahm man ein Zitat, in dem sie “geistiges Eigentum” sogar als “ekelhaft” bezeichnete. Gleichzeitig legte nun ihr Verlag juristische Schritte gegen auftauchende, illegale Kopien ihres Buches im Netz ein. Woraufhin ein Sturm der Empörung losbrach. Neben den sachlichen Argumenten rund um die Diskrepanz zwischen politischer Haltung und entgegengesetzt, paradox wirkendem Verhalten tauchten nun auch etliche hasserfüllte Kommentare auf, die für mich mit psychischer Gewalt gleichzusetzen sind. Als Abwehrreaktion werden nun vereinzelte Hasskommentare in einem eigens dazu eingerichteten Blog “Hatemails am Morgen” veröffentlicht. Anfangs wurden auch Namen und Adressen der Urheber publiziert, was aber aufgrund juristischer Bedenken wohl wieder zurückgenommen wurde.

Wichtig an dem Beispiel ist folgendes: Die Diskrepanz zwischen Haltung und Handlung führt zu einer Empörung. Damit man den Vergleich überhaupt ziehen kann, bedarf es dokumentierter Gedanken von Frau Schramm, die ihre Haltung belegen könnten. Die Veröffentlichung der Hassmails inklusive Urheber ist wiederum ein Beispiel für aktiv ausgeübte digitalisierte soziale Kontrolle. Denn die Urheber wurden aus dem anscheinend geschützten Kommunikationsraum “E-Mail” an das Licht der Öffentlichkeit gezerrt.

Die Interpretation

Dort oben sind also zwei anscheinend völlig unterschiedliche Symptome aufgezeigt, die für mich persönlich aber etliche Gemeinsamkeiten und interessante langfristige Auswirkungen auf unsere Gesellschaft andeuten. Auswirkungen, die explizit durch das Internet und seine Peripherie induziert werden. Oder sehr vereinfacht formuliert: Wir benutzen völlig selbstverständlich das Internet und kontrollieren uns dadurch selbst. Stärker. Schneller. Umfassender. Das hat langfristige Folgen für unsere Gesellschaft.

Von einer sozialen Kontrolle spricht man, wenn eine Gesellschaft darauf achtet die eigenen definierten Konventionen notfalls mit Gewalt durchzusetzen. Sie überwacht die inneren Vorgänge und bestraft bei Vergehen gegen die gesetzten Regeln. Bevor man bestrafen kann muss man den Verstoß entdecken und melden. Wenn in der Nachbarschaft Gewalt beobachtet wird, kommt es in der Regel zu einer Intervention. Die Polizei, als staatlich legitimierte Gewaltinstitution wird beispielsweise eingeschaltet um das unerwünschte Verhalten “Gewalt” zu unterbinden. Soziale Kontrolle wird aber natürlich nicht nur von der oberen Instanz “Staat” (aus)geführt, sondern vollzieht sich in allen menschlichen Systemen. So können bestimmte Themen, Ideen oder Verhaltensweisen innerhalb einer Familie, eines Freundeskreises oder innerhalb eines Unternehmens sanktioniert werden. Julia Schramm oder ihr Netzwerk hat als eine mögliche Form der sozialen Kontrolle ganz bewusst ein Weblog gewählt, mit dem sie öffentlich die eingegangen Beleidigungen öffentlich zur Schau trägt. Ein impliziter Aufruf an die Öffentlichkeit dieses Verhalten – wie auch immer – zu sanktionieren. Der Vorgang der Veröffentlichung an sich ist also bereits eine Sanktion, weitere Sanktionen könnten durch ihr Netzwerk (oder den Staat) folgen, da die jeweiligen Tätern und ihre Taten nun identifiziert wurden.

Anhand dieser Beispiele sieht man sehr schön, wie das Internet und dessen angedockte Peripherie (Augen, Ohren, Fühler, Sensoren etc.) ins Spiel kommt und entsprechend auch die soziale Kontrolle innerhalb einer Gesellschaft beeinflusst. Um zu verstehen wie sich soziale Kontrolle verändert hat und verändert wird ein weiteres allgemeines Beispiel: Mit dem Multierkzeug “Smartphone” kann man nicht nur mit seinem Netzwerk kommunizieren sondern sich und seine Umgebung parallel umfassend aufzeichnen (Foto-, Video-, Audio- und GPS-Aufnahmen). Die entstandenen Dokumente wiederum kann man vom gleichen Gerät aus in nahezu Echtzeit mit der gesamten Welt teilen. Somit entsteht ein globales Netzwerk aus unterschiedlichem, persönlichen Aufzeichnungsmaterial. Der Akt des Dokumentierens ist sogar dermaßen in Fleisch und Blut übergegangen, dass wir kaum noch den Unterschied bemerken, ob wir dokumentierend kommunizieren oder verflüchtigt kommunizieren. Was heisst das? Ein prominentes Beispiel liefert der ehemalige Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Herr Mappus. Durch seinen dokumentierten E-Mail-Verkehr konnte man bestimmte Vorgänge, die nun zu einer Anklage führten, entsprechend nachweisen. Herr Mappus hat also vermutlich den Unterschied zwischen dokumentierter Kommunikation und nicht-dokumentierter Kommunikation nicht mehr bewusst auf dem Schirm gehabt. Gleiches gilt für die vielen Benutzer von scheinbar abgeschirmten Kommunikationswerkzeugen von SMS über E-Mail, bis hin zum guten, alten Telefon. So gibt beispielsweise die Möglichkeit sich Skype oder andere Messenger so einzurichten, dass es eine ganz normale Telefonnummer zugewiesen bekommt. An Skype kann man problemlos Software andocken, die alle Gespräche (auch von digital zu analogem Telefon) aufzeichnet. Ansonsten wird einfach nur ein Smartphone unauffällig auf dem Tisch herum liegen, das problemlos alles aufzeichnet was gerade so im unmittelbaren Umkreis geschieht.

Was bewirkt nun diese ständige Dokumentation?

Es gibt wie immer mehrere Szenarien – düstere und weniger düstere Varianten. Die spannende Frage wird sein: Gibt es noch so etwas wie Privatsphäre? Da kommt dann sehr schnell die Theorie der “Post-Privacy-Ära” ins Spiel, die in etwa besagt, dass es so etwas wie Privatsphäre in Zukunft nicht mehr geben wird – jedenfalls nicht in der Form wie bisher bekannt. Die Beispiele von oben sind ein mögliches Indiz dafür. Will man Privatsphäre in ihren ursprünglichen Zustand zurückkatapultieren müsste man sowohl die Sensoren wie auch die Verbreitungsinfrastruktur lahmlegen. Das würde konkret bedeuten: Radikales Gadget- (Smartphone, Digicam etc.) und Internetverbot.

Nun haben wir uns aber dermaßen an das Internet und die tollen anderen technischen Spielzeuge gewöhnt, dass man für dieses Verbotsvorhaben wohl kaum noch eine Mehrheit in der Bevölkerung zusammenkratzen wird. Die Alternative zur Repression ist die Progression oder schlichtweg eine Gewöhnung an die neuen Gegebenheiten. Und wenn wir durch die technologische Entwicklung auch eine Veränderung der sozialen Kontrolle beobachten können, dann könnte man es auch auf den Prozess der Zivilisierung übertragen. Soziale Kontrolle als Programm zur Regelung von interdependenten Beziehungsgeflechten, genannt Gesellschaft. Zivilisation als mögliches Ergebnis dieses Programmes. Viele kluge Menschen haben dazu dutzende Bücher geschrieben. Steven Pinker und Norbert Elias seien an der Stelle ausdrücklich zum weiterforschen empfohlen.

Doch auch im Bezug zum Zivilisierungsprozess gibt es kritische Stimmen. So warnt man dann in der Regel vor der vollkommenden Anpassung des Individuums an gesellschaftlichen Konventionen und überbordender Political Correctness. Wer so argumentiert geht allerdings von einer Lebenswirklichkeit aus, die alle Normen und Regeln als etwas stabiles betrachtet, während sich die soziale Kontrolle verschärft. Ich sehe das nicht so. Normen werden kontinuierlich ausgehandelt und hinterfragt. Man kann also entweder davon ausgehen, dass eine Gesellschaft normierter und steifer wird oder dass die Individuen bewusster und eigenverantwortlicher handeln und bei Bedarf bestehende Konventionen öffentlich anfechten. Die Argumentation für das Individuum setzt auch voraus, dass das Individuum nicht anhängig sei von anderen Menschen. Auch das kann ich so nicht feststellen. Gerade die Interdependenz, also die gegenseitige Verflechtung von menschlichen Beziehungen, fordert auch die Einhaltung von gemeinsam formulierten Regeln – sofern man sich nicht ständig gegenseitig an die Gurgel springen will.

Unabhängig von den möglichen Szenarien finde ich in diesem Zusammenhang besonders spannend, dass wir in Zukunft Denken, Sprechen und Handeln kongruent halten müssen, sofern wir “Vertrauen” als einen wichtigen Bestandteil unseres Beziehungslebens bewahren wollen. Das heisst konkret, wir müssten sagen was wir denken und so handeln wie wir sprechen. Tun wir das nicht und werden dabei erwischt, entstehen Irritationen wie bei Mr. Romney und Frau Schramm. Beide senden paradoxe Signale, die das Vertrauen in sie bröckeln lässt. Das heisst diese unterschiedlichen, bisher trennbaren Räume – hier der Raum, in dem man das hören will und hier der Raum, in dem man was anderes hören will – verschmelzen ineinander. Sie sind nicht mehr trennbar. Hinterzimmergespräche werden somit ganz von alleine unmöglich. Der Klartext ebnet sich seinen Weg.

Wer sich selbst nun ausschließlich als Opfer dieser Entwicklung sieht, hat vielleicht noch nicht ganz verstanden, dass durch diese extreme Veränderung des Kommunikationsflusses auch immer eine Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen gleichzeitig stattfindet. Sozusagen zirkulär – das eine bedingt das andere und das andere wiederum das erstere usw. Ein kommunikativer Kreislauf. So wird sich zum Beispiel “Macht” in Zukunft innerhalb einer Gesellschaft vermutlich ganz anders verteilen. Machtmissbrauch ist in erster Linie durch die ungleiche Verteilung von Informationen (Wissen ist Macht etc.) möglich. Wenn plötzlich aber alle zunehmend in der Lage sind das Gleiche zu erfahren, so wird sich auch ein Stück weit Macht als solches verteilen.

Es liegt letztlich an uns, was wir aus diesen veränderten Parameter konstruktiv machen. Ignorieren wir diesen Prozess und lehnen uns zurück als ob es kein Morgen gibt? Versuchen wir den Prozess aufzuhalten, was einem Kampf gegen Windmühlen gleich käme? Malen wir schwarze Orwell’sche Bilder oder versuchen wir zur Abwechslung mal darüber intensiv nachzudenken, wie man das sinnstiftend für eine Gesellschaft interpretieren kann?

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