Ein Gespenst geht um in der deutschen Handelslandschaft. Es nennt sich Amazon und ihm werden schier übersinnliche Kräfte zugesprochen. Manche behaupten sogar, dass einige der ganz großen Händler wie Quelle oder Neckermann an ihm zerbrochen sind und dass die Buch und Media Märkte demnächst in ihr Grab folgen könnten. Das große Geheimnis von Amazon ist laut einem aktuellen Spiegel Artikel (DER SPIEGEL 30/2012) in erster Linie ihre Welt der Algorithmen. Doch das wäre viel zu kurz gedacht und brächte die letzten Überlebenden auf eine völlig falsche Fährte. Der Erfolg von Amazon setzt sich aus ganz vielen unterschiedlichen Rädchen zusammen, teils technisch, teils psychologisch und oftmals bedingt durch das Glück zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen zu sein. Erst im geschmeidigen Miteinander wurden die zahlreichen Komponenten zu dem großen funktionierenden Uhrwerk Amazon, das wir heute kennen. Ich habe mal versucht 10 dieser Rädchen aufzuführen, um der verbliebenen Konkurrenz klar zu machen, dass man nicht einfach nur an einem großen Algorithmus basteln muss um Amazon Herr zu werden. Diese Liste ist sicherlich komplett unvollständig und es fehlen bestimmt auch etliche Einblicke in das Management des Unternehmens. Es kann daher jederzeit gerne korrigiert oder ergänzt werden:
1. Die Gutscheinflut
Amazon musste einen verdammt langen Atem beweisen. Der Beginn des Unternehmens, soweit ich mich erinnern kann, bestand aus permanentem Gutscheinschleudern und damit auf indirektes Draufzahlen. Man verzichtete auf teure und unberechenbare klassische Werbung in Form von Spots und Anzeigen und setzte – nicht weniger teuer – alles auf die verkaufsfördernde Direktmaßnahmen in Form von Coupons. So konnte man sich eine ganze Zeit lang vor Gutscheinangeboten kaum retten und damit meine ich, dass Amazon wirklich extrem großzügig war. Gutscheine über 10 EUR ohne weitere Bedingungen waren keine Seltenheit. Wenn also Gutscheinstrategie, dann richtig und bitte keine Pseudo-Lockangebote mit doppeltem Widerhaken. Das dürfte Amazon damals eine Menge Geld gekostet haben, aber die dürren Jahre haben sich anscheinend ausgezahlt, denn sie haben sich dadurch frühzeitig als Online-Versandhandel eine Nische gekrallt und sich dort gnadenlos festgesessen, bis am Ende kaum noch jemand übrig blieb – oder wer kennt heute noch bol.de?
2. Das Marken-/Preis-Versprechen
Amazon hat es geschafft als dauerhaft günstig zu erscheinen (nicht zuletzt auch aufgrund der Versandkostenfreiheit) ohne dabei aber gleich ramschig zu wirken. Denn das Vertrauen in die Marke (durch reibungslosen Kundenservices und technologischer Infrastruktur) wächst stetig und damit kann es sich Amazon auch erlauben die Preisschraube ein bißchen anzuziehen. Amazon ist mittlerweile die Top-Marke im Onlinehandel und damit punktet Amazon in Preissuchmaschinen weniger dadurch der billigste Anbieter zu sein, sondern als Vertrauensmarke immer noch sehr günstigen Preise anbieten zu können. Der Kunde wägt ab, was ihm mehr wert ist, das Abenteuer eines völlig unbekannten Onlineshops oder der vertraute Versandriese. Klar ist aber: Der Preiskampf war zu Beginn ein wichtiger Hebel für Amazon und wird es sicherlich auch weiterhin sein.
3. Das gigantische Angebot immer verfügbar
Jeff Bezos, der CEO und Gründer von Amazon hatte von Anfang an ein klares Ziel. Amazon wird das größte Online-Kaufhaus der Welt. Sehr deutlich geht das auch aus dem Mission Statement von Amazon hervor: “Our vision is to be earth’s most customer centric company; to build a place where people can come to find and discover anything they might want to buy online.” Egal, was und wann der Kunde haben will, Amazon verkauft es ihm. Damit schlägt Amazon jedes Kaufhaus und jeden Katalogversender, denn deren Angebot ist schon allein durch den Platz in der Auslage, aufgrund der Seitenanzahl des Kataloges oder der Ladenöffnungszeiten begrenzt. Amazon nutzt damit konsequent das Long-Tail-Prinzip und sichert sich damit eine eindeutige Positionierung. Realisiert wurde dieser Ansatz durch die Einbettung vieler kleiner Händler in die große Amazonfamilie unter dem Label “Marketplace”.
4. Versand: Trostpflaster für die Schwächen
Ich gehe davon aus, dass Amazon den Offline-Handel gründlich analysiert hat und deren Schwächen mit ihren Stärken ersetzt und dabei aber gleichzeitig an den eigenen Schwächen arbeitet. Die grundsätzliche Verfügbarkeit von Waren ist das eine, die prompte Lieferung das andere. Amazon gibt seinen Kunden ein nicht zu unterschätzendes Trostpflaster für die relativ lange Lieferzeit: Die Versandkostenfreiheit. Rein psychologisch wirkt das bei den Kunden enorm und ich verstehe bis heute nicht, warum so viele Online-Shops immer noch Versandkosten auspreisen. Amazon hat hier einen Standard gesetzt, der sich bei vielen Kunden eingebrannt hat. Fallen Versandkosten an, so frustriert das die Kunden immens, auch wenn der Gesamtpreis vielleicht genauso hoch liegt. Man muss sich das so vorstellen: Auf den ersten Blick wirkt der Preis sehr günstig, die Versandkosten sind meist gut versteckt. Wenn dann der Checkout-Prozess anläuft fällt die Summe deutlich höher aus als zuvor im eigenen Kopf zusammengerechnet. Man fühlt sich einfach dadurch ein wenig veräppelt. Übrigens eine Methode wie man die Versandkosten am Ende doch wieder reinholen kann liefert Amazon mit seinem Premium-Angebot: 24 Stunden Lieferung kostet natürlich extra und mit dem Premium-Abo bindet man nicht nur Kunden dauerhaft, sondern belohnt sich gleichzeitig mit günstigem Zusatzservice. Übrigens arbeitet Amazon gerade fieberhaft an einer Lieferung am selben Tag. AM SELBEN TAG! Man kann sich also sehr schön ausmalen, was das für den Rest des Marktes bedeutet.
5. Der Algorithmus
Im Gegensatz zu vielen anderen Analysten sehe ich den Algorithmus von Amazon nicht als Top-Verkaufsinstrument. Er ist ein kleines Rädchen im Getriebe. Würde es wegfallen, würde es sicherlich nicht so rund laufen wie jetzt, aber zu behaupten die hinterherhinkenden Shops müssten allesamt mit so einer Technologie aufwarten ist Unfug. Die Funktionen des Amazon-Algorithmus erzeugt im Grunde genommen einen symbolischen Akt. Seht her, ich kann deine Interessen erkennen ohne dich dabei zu belästigen (auch wenn manche das schon als belästigend empfinden, wobei es weitaus brenzliger wäre, würde der Verkäufer im Laden meine Verkaufshistorie runterleiern können). Der “Das könnte dir auch gefallen” Effekt ist also eher ein Beweis für das eigene gigantische Angebot, was natürlich umso beeindruckender ist, wenn es sich auf die eigenen Interessen bezieht. Natürlich fällt dadurch auch immer wieder ein Verkauf ab, aber ich glaube nicht, dass der Algorithmus zu völlig neuen Impulskäufen führt. Wie gesagt, ein sehr wichtiges Rädchen im Getriebe, aber bestimmt auch keine ultimative Killerfunktion.
6. Das Empfehlungsnetzwerk
Amazon ist kein klassisches Thema auf Twitter, Facebook oder anderen sozialen Medien. Amazon ist eher eine gut geölte Affiliate-Maschinerie. Durch das Partnerprogramm “PartnerNet” bietet Amazon reichlich Futter um sich selbst zu bewerben. So kann man sehr einfach eigene kleine Shops bauen mit dem Amazon-Sortiment oder Links im eigenen Blog oder in Foren mit einem Partnersignet unterlegen und n jedem getätigten Kauf mitverdienen. Hier steckt meines Erachtens viel mehr lohnenswerter Gehirnschmalz und Technologie drin als in dem zuvor angesprochenen Algorithmus. Hier steckt die geheime Vertriebspower in Form von Netzwerk-Marketing drin, gemäß dem Motto: Bei jedem von uns umgesetzten Euro darfst du ein bißchen mitverdienen.
7. Die Suchmaschinenpräsenz
Tippt man in Google einen beliebigen Titel mit dem Zusatz “Buch” ein, so wird man nahezu immer als ersten Versandhändler für Bücher Amazon weit oben stehen haben. Bedingt durch das sehr gereifte und alles durchdringende Netzwerk-Programm (siehe Punkt 6) dürfte die Herrschaft über die Suchamschinen für lange Zeit gesichert sein. Google liebt Verlinkungen und Amazon belohnt Verlinkungen. Neben den notwendigen technischen Grundvoraussetzungen dürfte also die Anzahl der externen Verlinkungen und die lange Historie des Amazon-Contents zu einem Platzhirschen-Status bei Suchmaschinen geführt haben. Gleichzeitig merkt man auch deutlich, dass Amazon das Budget für Suchmaschinenanzeigen beisammen hält, im Gegensatz zur Konkurrenz bucht man längst nicht mehr die teuersten Keywords ein, wozu auch, wenn man ganz automatisch oft genug in den Top-Suchergebnissen erscheint?
8. Die unaufdringliche Top-Beratung
Was ebenfalls zigfach wertvoller als der besagte Empfehlungsalgorithmus ist, dürfte die Anzahl und Intensität der Produktbewertungen sein. Damit hat Amazon die Offline-Händler um Längen geschlagen. Natürlich ist man froh über eine tolle Beratung im Einzelhandel, aber gibt sie einem auch immer das Gefühl neutral zu sein? Die Produktbewertungen von Amazon sind zum Teil vielleicht “Fake”, aber noch wirken sie insgesamt sehr echt und ausgeglichen. Mag vielleicht auch daran liegen, dass Amazon hier ausgeklügelte Reinigunsgmechanismen zum Einsatz bringt, bzw. die Community vielleicht auch hinreichend auf Missbrauch aufmerksam macht. Hier wird also man von Kunde zu Kunde beraten und nicht von Verkäufer zu Käufer. Es entsteht ein ganz anderes Vertrauensverhältnis, der “Social Proof”. Das Schlimmste was Amazon demnach passieren kann sind Produkte ohne Rezension. Daher verwendet Amazon auch viel Zeit und Energie in ein Belohnungssystem für Produktbewertungen. Wenn man hier Amazon in Zukunft Konkurrenz machen möchte, sollte man sich als erstes überlegen, wie man dieses Top-Beratungssystem toppen könnte.
9. Das zeitlose Design
Man wird das Design von Amazon alles andere als “benutzerfreundlich” oder “schick” bezeichnen und dennoch hat es eine enorme Stärke: Zuverlässigkeit. Wenn es Designänderungen gibt, so werden diese sehr behutsam vollzogen und zwar mit Rücksicht auf die bisher gewonnene Vertrauensbeziehung. Nur Hardcore-Internetbenutzer und Designer freuen sich über einen Tapetenwechsel, der Otto-Normal-Surfer wird von heftigen Designänderungen eher abgeschreckt sein. Dazu kommt die gigantische Komplexität, die Amazon in ihr Design packen muss. Jede zusätzliche Information kann zu mehr oder weniger Verkäufen führen, daher wundert es nicht, wenn man das Erfolgsmodell rein äußerlich nur ungern verändern möchte. Interessant ist auch der Designunterschied zwischen den Ländern. So scheint die Mutterseite wohl designtechnisch immer einen Schritt voraus sein. Wer übrigens meint so ein Relaunch sei doch ein Kinderspiel, der soll mal alle verfügbaren Seitenvarianten und Gestaltungselemente von Amazon stringent durchgestalten. Amazon muss hier also permanent gestalterische Altlasten mitschleppen, wobei das der Bestellfreude keinen Abbruch tut. Ich vermute, wenn Amazon sich heute neu gründen müsste, sähe das Design auch komplett anders aus. Neben der visuellen Gestaltung gibt es schließlich noch die Anordnung von vertrauensbildenden Komponenten, das geht hinein bis in die Ausgestaltung von Serviceprozessen. Da scheint man nicht all zu verkehrt zu liegen. Der Bestellvorgang ist handhabbar und übersichtlich. Funktionalität macht hier also wieder viel Boden gut.
10. Das “Change & Innovation Setting”
Sobald der Trend abzusehen war, dass E-Books ein vielversprechender Zukunftsmarkt ist, setze Amazon alle Hebel in Bewegung um an einem eigenen Ausgabegerät zu basteln. Doch es handelt sich nicht einfach nur um einen “Reader”. Amazon hat mit dem Kindle (Fire) auch gleich einen komplett neuen “Store” gebaut. Somit folgt der Konzern dem Trend der “Internet of Things”, also dem Gedanken, dass moderne Elektronikgeräte in Zukunft mit dem Internet verbunden sind. Also der Kühlschrank, der nicht nur den eigenen Inhalt kennt, sondern fehlende Produkte direkt bei Amazon ordert. Somit orientiert sich die Innovationsaktivität immer eng an den Kernkompetenzen von Amazon. So sicherlich auch das Projekt “same-day-delivery”.
Übrigens gibt es zu diesem Thema noch eine weitere interessante Analyse, die auch der Frage nachgeht, ob es ein Leben neben Amazon gibt und der Artikel beweist: Ja, auch Amazon hat wunde Punkte.
Erwähnenswert ist auch immer der Preis des Erfolges, in dem Fall auch auf Kosten vieler Mitarbeiter. So hat vor kurzem eine ZDF-Doku das Arbeitsumfeld der großen, erfolgreichen Online-Versandhändler beleuchtet. Ein niedriger Preis hat immer seinen Preis, dazu lesenswert der Artikel von Olaf Kolbrück, der eben auch die Konsumenten in die Verantwortung mit einbezieht.
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