Eine Frage der Zugehörigkeit – Warum die Beschneidungsdebatte so aufregt

Wir Menschen und – wie die moderne Primatologie lehrt – übrigens auch die anderen höheren Säugetiere scheinen psychisch in einem sinn- und ordnungslosen Universum nicht überleben zu können. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit des Füllens der Leere, deren Erlebnis uns in seiner verdünntesten Form in Langeweile, in seiner konzentriertesten in Psychose oder Selbstmord treiben kann. Wenn aber so viel auf dem Spiele steht, muß die Erklärung der Welt hieb- und stichfest sein, darf sie keine Fragen offenlassen.

Paul Watzlawick aus “Die erfundene Wirklichkeit

Was Watzlawick, den ich leider dazu nicht mehr befragen kann, in erster Linie damit wohl meinte, ist die Annahme, dass wir Menschen ohne eine von der Gesellschaft vorgegebenen Orientierung uns auf dieser Welt wohl kaum zurecht finden würden, damit also nicht wirklich (über)lebensfähig wären. Wie sähe eine Welt ohne erfahrbare Sinnzusammenhänge wohl aus? Allein die Vorstellung ist nahezu unmöglich.

Als Säugling erfahren wir die Welt mit unseren uns zur Verfügung stehenden Sinnen und die Umwelt bestimmt in erster Linie unsere Sinnstiftung. Das heisst, wir lernen zum Beispiel nicht alle auf der Welt verfügbaren Sprachen, sondern die Sprachen unserer Eltern oder unmittelbaren Bezugspersonen. Das bedeutet aber eben auch, wir haben keine unmittelbare Wahl in der Hinsicht und wir müssen das nehmen was an uns herangetragen wird. Wir imitieren nicht nur die vorgesprochenen Worte, sondern die damit verknüpften Interpretationen und Wertungen. Wir lernen nicht nur den Begriff “Scheisse”, sondern auch die dazu passenden Gelegenheiten, in denen dieser Ausdruck Sinn ergibt. Sprache konstruiert also maßgeblich unsere Wirklichkeit. (Wen das näher interessiert, könnte zum Beispiel mal einen Blick in die Arbeit des Linguisten Noha Bubenhofer (PDF) wagen)

So wird beispielsweise in unseren ersten Lebensjahren die verbal formulierte Frage nach dem „Warum?“ zu einem elementaren Werkzeug um der Welt einen Sinn zuzuschreiben – oftmals zum Leidwesen der genervten Eltern. Mit “Sinn” meine ich und wahrscheinlich auch nicht Herr Watzlawick den großen Sinn des Lebens, sondern wohl eher die zahlreichen kleinen Handlungen und Verhaltensweisen, die das Kind von Lebensbeginn an beginnt von den Erwachsenen zu imitieren und gleichzeitig zu verinnerlichen, mit dem Sinn in eine Gemeinschaft mit ihren jeweiligen Regeln hinein zu wachsen. Wenn also das Kind fragt, warum es „Gesundheit“ sagen muss, wenn jemand niest, so wird ihm bereits durch die Antworten (zugleich Sinnzuschreibung) wie „Weil das höflich ist“ oder „Weil man das so macht“ eindringlich vermittelt, dass es – wenn es das nicht tut – sich automatisch gegen die eigene Gemeinschaft richtet.

Die erzieherischen Informationen wie „Das tut man nicht“ oder „Das macht man so“ werden somit zu Sinn-Botschaften und Regeln der Zugehörigkeit. Nicht der Inhalt der Regeln ist existenziell sondern die Regeln an sich. Während also die Regeln zur Zugehörigkeit kulturell unterschiedlich ausfallen, ist der Drang nach Zugehörigkeit ein kulturell unabhängiges Bedürfnis.

Die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft, egal ob Familie, Dorf oder Religion, ist also ein lebensnotwendiger Aspekt im Leben eines Menschen. Der Ausschluss aus einer Gemeinschaft ist gleichzeitig auch eine Bestrafung. So wie die über viele tausend Jahre praktizierte Verbannung, als Alternative zum Gefängnis. So ist es wohl auch nicht verwunderlich, dass die Neurowissenschaft vor kurzem einen Zusammenhang zwischen Ausgrenzungserfahrungen und Aggressionspotenzial vermutet.

Neben den Regeln gibt es natürlich auch immer klare Symbole der Zugehörigkeit. Kleine Kinder können sich meist nicht aussuchen, welche Symbole der Zugehörigkeit sie tragen (müssen). Eine bei uns sehr bekannte Zuweisung mit Symbol ist die Geschlechterunterscheidung mittels Farbcodes. Mädchen tragen rosa und Jungs blau. Nun mag diese Selbstverständlichkeit nichts besonderes sein, interessant wird es aber wenn wir uns andere Kulturen anschauen, plötzlich dürfte es uns klar werden, wie konstruiert diese Sinnzuschreibung tatsächlich ist. So weisen beispielsweise die Bewohner der Stadt Amarete allen Objekten, nicht nur Menschen, ein eindeutiges Geschlecht zu, wobei es dort auch mehrere Kombinationsmöglichkeiten, also Nuancen, gibt (männlich/männlich, weiblich/männlich usw.). Doch das wirklich Interessante an der Kultur in Amarete ist die Zuweisung von Geschlechtern unabhängig von äußeren Geschlechtsmerkmalen. So werden in Amarete etliche, bei uns eindeutig durch ihre Körpermerkmale zugewiesen Männer, als weiblich eingeordnet und zwar anscheinend auch nicht dauerhaft, sondern durchaus sehr fließend, wie es die Ethnologin Ina Rösing in ihren Aufzeichnungen “Die 10 Geschlechter von Amarete” dokumentiert.

Neben der Farbkodierung von Babys gibt es natürlich auch etliche andere Zugehörigkeitssymbole. Meist projizieren die Eltern auch einfach nur ihre Zugehörigkeit auf das Kind. Egal ob es sich um heilige oder so profane Dinge wie ein Markenlogo oder ein Bandname ist. Das Kind zeigt damit also immer sehr deutlich und oftmals unfreiwillig zu wem es gehört. Ab einem gewissen Alter wollen die Kinder dann auch ihre eigene Zugehörigkeit bestimmen. Bevorzugte Kleidungsstücke sind dann mit den Helden der Kindheit geschmückt, sehr zur Freude von Disney und Co und oft zum Leidwesen der Eltern.

Und natürlich treibt diese Markierung der Zugehörigkeit mitunter auch seltsam anmutende Blüten. So gibt es in Spanien eine ganz andere Kodierung zur äußeren Bestimmung der Geschlechter. Dort achtet man nicht auf die Farben der Kleidung oder Kinderwägen, sondern darauf, ob das Baby Ohrlöcher hat oder nicht, denn unmittelbar nach der Geburt werden den kleinen Mädchen Ohrlöcher geschossen.

Womit wir dann nach der etwas ausführlichen Einleitung endlich beim eigentlichen Anlass dieses Beitrags wären Thema wären: Die religiöse (Zwangs-)Beschneidung bei Babys und Kindern.

Dieser Akt ist ganz klar ein Akt der Zugehörigkeit. Er hat in den praktizierenden Kulturen einen festen und bis heute kaum hinterfragten Sinn zugeschrieben bekommen, nämlich nicht nur den Bund mit Gott, sondern vielmehr den Bund mit der eigenen Kultur, also der eigenen Familie. Die muslimischen oder jüdischen Eltern, die in unserem westlichen Leben bisher gut integriert waren und sich sicherlich auch Deutschland zugehörig fühlen stehen nun vor einer sehr schweren Wahl: Gebe ich die eine Zugehörigkeit (wenn auch nur symbolisch) für die andere auf?

Das sind alles Fragen und Gedankengänge, die ich bisher bei der Debatte schmerzlich vermisst habe. Das ist auch der Grund warum diese Debatte bisher fast ausschließlich hitzig und emotional geführt wurde. Eine Zugehörigkeit tritt gegen die andere an und sieht keinerlei Kompromisse. Ja, es ist aus der Perspektive der Menschen ohne dieses Zugehörigkeitssymbol der Beschneidung sehr richtig, dass der Akt selbst ein völlig überflüssige Körperverletzung, ein ungefragter Eingriff gegen die Unversehrtheit des Kindes, irreversibel und mit möglichen Spätfolgen, ist.

Es geht bei dieser Debatte auch gar nicht in erster Linie um “die dumme und unaufgeklärte Religion”, wie manche Atheisten nun mit Freude erfüllt skandieren. Es geht hier um ein Grundbedürfnis des Menschen nach Zugehörigkeit. Im Fall der Beschneidung ist es aus der Tradition der Religion entstanden, aber es könnte genauso gut atheistischen Ursprungs sein, so wie das Ohrlochstechen wohl kaum ein Ausdruck einer religiösen Zugehörigkeit darstellt.

Dieser Zusammenhang zur Frage der Zugehörigkeit, zu der eigenen Identität, muss uns einfach bewusst sein, wenn wir ein gesetzliches Verbot der rituellen Beschneidung fordern. Ein Eingriff, der sehr schnell als Angriff gedeutet werden könnte. Auf der anderen Seite ist das Wohl des Kindes eine wichtige Zugehörigkeitsregel in unserer Kultur, in unserem Rechtsstaat. Somit wäre sowohl ein Verbot, wie auch die ausdrückliche Erlaubnis ein massives Eingreifen in die Frage der eigenen Identität. Die Spaltung wäre vorprogrammiert, so wie auch ein Ende der Debatte.

Aufklärung kann demnach nur durch Aufklärung erfolgen. Gespräche auf Augenhöhe, Begegnung und Austausch mit dem Ziel eines Kompromisses. Ein solcher Mittelweg wäre beispielsweise die Option die Beschneidung auf das Erwachsenenalter zu verlegen oder andere symbolträchtige Formen der Zugehörigkeit zu entwickeln, das kann aber nur von den religiösen Führern als anerkannte Regel festgelegt werden und nicht von außen erzwungen werden. Es sollte darauf hingearbeitet werden stellvertretende Rituale und Erkennungszeichen zu schaffen – es wäre für alle Religionen auch nicht das erste Mal, dass sie so einen Wandel vollziehen würden.

Ein Gesetz, von außen auferlegt und egal in welcher Richtung formuliert wäre absolut kompromisslos. Ich würde mir sehr wünschen, wenn wir den Prozess der gegenseitigen Aufklärung aufrecht erhalten würden, auch im Sinne unserer Kinder und ihrer zukünftigen Zugehörigkeit zu einer miteinander debattierenden Kultur.

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