Miriam Meckel, Professorin für Kommunikationswissenschaft der Universität St. Gallen, formulierte in der NZZ einen Beitrag, der die derzeitige öffentliche Debattenkultur beleuchten und analysieren soll. Ihre These lautet sehr vereinfacht formuliert: Wer am lautesten schreit, bekommt heute die größte mediale Aufmerksamkeit. Dieser kaskadierende Zustand führe aber langfristig zu einer Spirale der verstörenden Debattenkultur, die letztlich nicht ausreicht um vernünftige Konsenslösungen in einer demokratischen, pluralistischen Gesellschaft zu entwickeln. Die Form der marktschreierischen Aufmerksamkeitsgewinnung färbt also auch auf den Inhalt selbst ab, denn um zu schreien benötigt man mitunter auch zum schreien verführende Themen, meist in Form eines Bruches mit gesellschaftlich vereinbarten Tabus. Oder wie Frau Meckel es sicherlich wesentlich eloquenter formuliert:
Es ist nicht nur ein Formproblem, dem wir bei den öffentlichen Debatten um Aufregerthemen begegnen. Ein inhaltlicher Wandel versteckt sich dahinter, der für eine pluralistische Demokratie nicht gut sein kann. Wenn politische Gestaltung in der Konsensfindung zwischen entgegenstehenden Positionen liegt, dann braucht sie politische Meinungsbildung, die sich in der diskursiven Auseinandersetzung zwischen den Positionen und ihren Argumenten vollzieht. Das wird in der Empörungskultur zuweilen schwierig.
Soweit würde ich Frau Meckel auch zustimmen. Was mir jedoch in diesem Zusammenghang missfällt ist der darin skizzierte Sündenbock einer digitalen Gesellschaft.
Hinter dem Shitstorm verbirgt sich ein Mechanismus, der initiiert oder befeuert wird durch eine empörte Netz-Community oder auch eine Gruppierung, die in Deutschland mit dem Begriff des «Wutbürgers» inzwischen zur neuen politischen Kategorie geworden ist. Manchmal ist der Impuls, der so viel Wind macht, gut gemeint, manchmal auch auf die Wutwelle hin angelegt. Dieser Mechanismus läuft als Viersatz präzise wie ein Uhrwerk ab, programmierbar fast wie eine Computersoftware.
(…)
Aber es stimmt, dass die enorme Beschleunigung der Netzkommunikation manchmal dazu verleitet, erst zu schreiben und dann zu denken. Es stimmt auch, dass neben der «Weisheit der vielen» gelegentlich auch die «Dummheit der Massen» im Netz zur Sprache kommt und jedes Gerücht, jede Unterstellung im Rausch der ubiquitären Verbreitung durchs Internet schnell in eine Tatsache umgemünzt wird. Und es stimmt leider auch, dass die unangenehmen sozialen Auswüchse im menschlichen Miteinander nicht mehr auf den Streit zwischen Nachbarn der analogen Gartenparzellen beschränkt bleiben, sondern in den Blogwarten des Netzes, gelegentlich gar in Auswüchsen einer Digital-Polizei, neue Ausdrucksformen gefunden haben.
Dieser Absatz erzeugt bei mir den Eindruck, als sei das Phänomen des Shitstorms etwas gänzlich neues, als entspränge es direkt der Erfindung und Benutzung der Kommunikations-Infrastruktur Internet. Das Web und seine Prosumenten, bestimmten nun plötzlich die Tonalität von öffentlichen Debatten und zwar in unglaublich fäkalgeprägter Ausführung. Das klingt doch schon ein wenig nach: Früher war alles besser, gesitteter und irgendwie vernünftiger. Riskiert man jedoch beispielsweise mal einen Blick auf die Spiegeltitel der “vorinternetlichen” Vergangenheit, so sollte man eigentlich sehr schnell erkennen können, dass sowohl Tonalität wie auch Inhalt damals keineswegs wesentlich zaghafter, sachlicher oder zivilisierter gestaltet waren. Der Kern der Ökonomie der medialen Aufmerksamkeit hat sich in der Geschichte der Medien kaum verändert, sehr wohl jedoch dessen wahrnehmbare Intensität und Resonanz.
An der Stelle bin ich mir nicht sicher ob Frau Meckel in dieser Betrachtung nicht leichtfertig in eine Interpretationsfalle tappt. Es erweckt den Anschein als würde sie die aus meiner Sicht weiterhin tonangebenden Mainstreammedien, in Form von großen Verlagen und Zeitungstiteln, Fernsehesendern, Talskshow- und Magazinformaten plötzlich leichtfertig ausblenden. Der Beitrag hinterlässt bei mir als Leser das Gefühl, als sei das Internet der größte Lautsprecher überhaupt, der jetzt erst zur Verrohung der zuvor so sittlichen Debattenkultur geführt hat. Alle Beispiele, die Frau Meckel in ihrem Beitrag so vortrefflich benennt, sind jedoch alles Themen, die zuerst in den klassischen Medien, zum Teil auch sehr bewusst, platziert wurden.
Das sogenannte Agendasetting hat sich durch das Internet nicht plötzlich von heute auf morgen komplett auf die andere Seite verschoben. Die etablierten Medien sind auch weiterhin dafür maßgeblich verantwortlich, was die Bürger in Masse lesen, sehen, hören und anschließend darüber denken und sprechen. Ja, es ist durchaus möglich, das ein kleiner Flügelschlag im Netz nach oben in die klassischen Medien befördert wird, aber die meisten reißerischen Themen werden immer noch von den etablierten Medienmachern und Journalisten erstellt. Oder vielleicht einfach mal ganz provokant gefragt: Gäbe es einen echten Shitstorm überhaupt ohne die letzte große Station einer Kaskade den klassischen Massenmedien? Ist ein Thema wirklich ein brisantes Thema, wenn es nicht bei den etablierten Show- und Magazinformaten eine Erwähnung erhält?
Günter Grass hat sein Gedicht eben nicht anonym im Internet veröffentlicht. Hätte er es nämlich unter dem Pseudonym “Günni_85” getan, so hätte er mit aller Wahrscheinlichkeit niemals diese mediale Empörungskaskade ausgelöst. Nein, gleich drei internationale hochrangige Zeitungstitel sollten Grass bei der Beförderung seiner tabubrechenden Thesen unterstützen. “Der Kulturinfarkt” wäre ohne initiierenden Spiegel Print Abdruck wahrscheinlich in den Regalen von Amazon oder Hugendubel verstaubt. Der Fall Christian Kracht? Dort war, wie Frau Meckel ja richtig schreibt, ebenfalls der Spiegel beteiligt. Und was war das noch mal mit diesem Sarrazin?
Nicht die Bürger im Netz sind nun die großen Lautsprecher, es sind in der Regel weiterhin die etablierten, reichweitenstarken Medien. Das Netz und die Gespräche im Netz sind als neue Komponente eher eine Art Verstärker. Sie drehen den Lautsprecher noch lauter, bis zum Anschlag, bis zur Verzerrung. Wenn aber heutige Talkshows, beispielsweise ihren “Showteil” ablegen würden, dann wäre das ein deutliches Signal in Richtung Debattenkultur, wie sie sich Frau Meckel wünscht.
Für jeden menschlichen Umgang miteinander bedarf es Vorbilder, das ist der Kern von Erziehung. Egal ob es die Eltern, Freunde oder die Stars in den Medien inklusive Internet ist. Wir beeinflussen uns gegenseitig, wir imitieren und spiegeln uns. Daher hat meiner Ansicht nach die größte Reflektionsfläche auch immer den größten “Impact”, also einen Einfluss. Völlig vereinfacht polemisiert bedeutet das: Je mehr Quote ein Fernsehformat hat, desto mehr Menschen kann es zur Imitation anregen. Meine Frage lautet daher: Wäre es nicht geschickter und effizienter zunächst die rein kommerziellen Medienangebote genau nach ihrem geforderten ethischen Imperativ einer Debattenkultur auszurichten, statt zu versuchen alle Nutzer des Internets einzeln dazu zu bewegen sich zu verändern? Wäre das in der Umsetzung am Ende nicht einfacher und zielführender?
Eine kleine Schlussbemerkung sei mir noch erlaubt. Der größte Shitstorm, den Deutschland im letzten Jahr erleben durfte, war der rund um unseren ehemaligen Bundespräsidenten Wulff. Meine Fragen dazu an Frau Meckel: Wer hat ihn ausgelöst? Wer hat ihn ausgetragen und wer hat ihn maßgeblich immer wieder verstärkt und über lange Zeit aufrecht erhalten? Die Internetnutzer, die sich zeitweise schon gelangweilt abgewendet hatten? Welche Signale haben die kommerziellen Medien damals in die breite Bevölkerung ausgesendet? War das die Aufforderung nach einem vernünftigem Diskurs, nach Konsenslösungen? Und was wesentlich interessanter ist: Wie haben sich diese Signale auf die Rezipienten, die Empfänger dieses Shitstorms ausgewirkt? Was war denn da die große Imitationsvorlage?
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