“Demokratie lebt vom Streit, von der Diskussion um den richtigen Weg. Deshalb gehört zu ihr der Respekt vor der Meinung des anderen.”
Richard von Weizsäcker
Es erscheint fast so, als möchte momentan jeder Bundespräsident werden bzw. seinen eigenen Avatar ins Rennen schicken. Das ist in erster Linie ein deutliches Signal, wie schnell unsere Gesellschaft sich im Pluralismus entfaltet und sich nach direkter Mitbestimmung sehnt. Jeder möchte mitreden. Jeder möchte mitgestalten. Jeder möchte demokratisch teilnehmen. Jeder möchte die Welt verändern. Wären da nur nicht die Andersdenkenden, die scheinbar immer im Weg stehen und ständig behaupten, dass die Welt eigentlich ganz anders beschaffen ist, als man sie selbst wahrnimmt. Was könnte denn wahrhaftiger sein als die eigene Interpretation? Entweder man gleicht sich dem Denken der anderen an, bekämpft es oder lernt die Koexistenz.
Das Internet ist Nährboden und Katalysator einer pluralistischen Gesellschaft. Es wird zur griechischen „Agora“, einem großen Marktplatz, auf dem die Menschen damals über wichtige Themen, Denkweisen und Ansichten friedlich miteinander debattierten und stritten. Warum entzündet sich dieser Marktplatz nun gerade ausgerechnet rund um die Personalie Gauck?
Gauck erscheint für viele auf den ersten Blick inkompatibel zu den modernen Medienformen zu sein. Er ist ein Mann der langen Worte, ausschweifend, ausholend und er versucht immer abwägend zu argumentieren, unabhängig vom transportierten Inhalt und wie dieser am Ende interpretiert wird. Es handelt sich dabei um eine rhetorische Eigenschaft, die viele als “verschwurbelt” oder “relativierend” empfinden und Gauck dann auch immer wieder in diesem Zusammenhang vorwerfen, warum er nicht endlich auf den Punkt kommt und Klartext spricht bzw. klar zum Ausdruck bringt, ob er jetzt konservativ, liberal oder links ist. Diese Form der Rhetorik wird in rastlosen Zeiten, in denen eine globale Nachrichtenmeldung die nächste jagt und untereinander von den Medien gehetzt repliziert wird, äußerst argwöhnisch beäugt. Zu sehr hat man sich an die simplifizierten, griffigen Schlagzeilen und Meme gewöhnt, die auch gleichzeitig den indirekten monetären Erfolg durch boulevardesk wirkende Klickstrecken, Katzenbildern und bunten Infografiken erklären könnte.
Der Mensch passt sich eben auch dem Medium an. Er will in einem Überangebot an Informationen natürlich auch immer mehr Informationen in kürzerer Zeit aufnehmen und verarbeiten können. Er verspürt gar einen gewissen gesellschaftlichen Druck, komplexe Sachverhalte in immer kürzerer Zeit zu erfassen, allenfalls gilt er als ungebildet, uninformiert oder einfach nicht auf der Höhe der Zeit oder Tagesaktualität. Der Mensch in der digitalen Kultur muss Generalist und Spezialist zugleich sein und vor allem muss er zu allem und ständig eine Meinung haben und diese auch unmittelbar kundtun. Es ist schließlich ein wichtiger Ausdruck seiner Freiheit und auch seiner Existenz. “Ich publiziere, also bin ich”. Eine enorme Chance der Demokratisierung, aber eben auch die große Gefahr an die Grenze der eigenen Kognitionsfähigkeit zu gelangen und damit gar nicht mehr in der Lage zu sein, vernünftige Urteile über Sachthemen zu fällen. Diese kognitive Arbeit hat uns in der Vergangenheit die alte Medienzunft mit ihren entschleunigten Publikationsformen weitgehend abgenommen. Dennoch wäre es fatal sich nach diesem analogen Medienzeitalter zurückzusehnen, denn es gab weder die Möglichkeit zur Mitbestimmung noch zur breiten, öffentlichen Meinungsäußerung. Die Filterblase war mindestens genauso stabil, wie sie heute empfunden wird.
Damals gab es nicht die Chance Artikel und Berichte dauerhaft und vielschichtig aus ganz vielen Perspektiven heraus zu kommentieren, zu korrigieren, geschweige denn einfach so zu jeder Zeit einzusehen. Heute werden lange und verschachtelte Texte als anstrengend empfunden bzw. nicht mehr genügend Aufmerksamkeit entgegengebracht um sie ausreichend und gründlich zu erfassen, weil bereits die nächste Kurzmeldung durch den Äther rauscht. Viele animierte Bilder sagen daher oft mehr als tausend Worte.
Was man von Menschen wie Gauck in Gegenwart und Zukunft ganz sicher nicht erwarten kann, ist eine griffige, retweetbare Aussage in 140 Zeichen und zwar punktgenau zu allen Themen der Welt, so formuliert, dass sie jeder getrost abnicken kann. Das war vermutlich auch ein Grund, warum so viele andere potenzielle Kandidaten dem Amt eine Absage erteilten. Sie wollten sich vielleicht nicht einlassen auf eine mediale Wahrnehmung der Verkürzung und Verstümmelung ihrer Argumente zu den wichtigsten Themen unserer Gesellschaft. Was wir aber sehr wohl von unseren kommerziellen und öffentlich-rechtlichen Medien in Zukunft erwarten müssen, ist die Ermöglichung der vollständigen Darlegung von Diskursen und der Herleitungen von komplexen Gedankengängen, sei es in Form von Aufzeichnungen von Debatten, Vorträgen oder der Verlinkung von Redemanuskripten und der Veröffentlichung vollständiger Gesprächsinterviews. Der moderne Journalist sollte es den mündigen Lesern ermöglichen und vereinfachen, jederzeit die Urquelle der Berichterstattung zurückzuverfolgen. Das ist die große Chance, das Internet als neue „Agora 2.0“ zu begreifen.
An der Entzündung rund um die Peron Gauck und seinen inhaltlichen Themen, offenbart sich also gelebter Pluralismus. Es ergibt sich nun die einmalige Chance zu reflektieren, wie wir Menschen in Zukunft miteinander und untereinander und somit auch mit unseren Medien umgehen. Werden wir endlich damit beginnen, miteinander über die großen strittigen Themen der Gesellschaft angstfrei aber respektvoll zu debattieren oder werden wir wieder dort landen, wo wir bisher immer landeten, wenn Denkweisen und Kulturen unvereinbar aufeinanderprallten: Wir versuchen die andere Denkweise zu hassen, zu diffamieren und auszugrenzen.
Ich sehe die derzeitige Debatte um die Person Gauck in erster Linie also als einen guten und wichtigen Anlass auch gerade über alte wie neue Medien kritisch zu reflektieren. Es verdeutlich uns wunderbar die Chancen und Risiken. Die Chance auf interkulturelle Debatten und Verständigungsversuche, das gleichzeitige Risiko zu gegenseitiger Anfeindung und Ausgrenzung. Die Chance auf Meinungsfreiheit und politischer Mitgestaltung, das Risiko andere Meinungen zu diffamieren und Gestaltung zu blockieren. Die Chance die Gesellschaft zu informieren und aufzuklären und das Risiko zu desinformieren und zu verführen.
Die Menschen haben das Netz somit selbst in der Hand und im Kopf. Sie haben selbst die Verantwortung dafür, wie sie tagtäglich dieses Medium nutzen und benutzen. Doch dazu muss auch allen wirklich bewusst werden, wie man dieses neue Kulturwerkzeug anwendet und wie es sie sich vor allem von den Medien der Vergangenheit unterscheidet.
Abschließend bleibt zu sagen, dass die professionellen Medienmacher nun besonders in der Pflicht stehen, sich mit der neuen Publikationsform intensiv auseinander zu setzen. Sie müssen sich wichtige Fragen stellen wie: Darf man einen Artikel nach Erscheinen nachträglich verändern, so wie es das Prinzip bei Wikipedia vorsieht? Macht eine Depublikationsregelung, wie sie der Rundfunkstaatsvertrag vorsieht, wirklich Sinn, wenn man die Urquellen jederzeit zugänglich machen möchte? Ist die besonders hohe Geschwindigkeit der Publikation wirklich auch ein Garant für kommerziellen Erfolg? Hindert uns die Struktur des alten Urheberrechts nicht auch gleichzeitig an der Tätigkeit der geschulterten Aufklärung durch Prosumenten? Ist ACTA wirklich das richtige Signal für die neue pluralistische, digitale Epoche?
Das sind alles Fragen, mit denen sich Medienmacher und Mediennutzer in zukünftigen Debatten auseinandersetzen müssen.
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