Um klar zu sehen, genügt oft ein Wechsel der Blickrichtung.
Ich bin kein wirklicher Anhänger der Piratenpartei, vielleicht weil ich wie viele andere einfach noch abwarte, was ich als politikerverdrossener Mensch demnächst als Parteiprogramm serviert bekomme. Ich erwarte vorgefertigte Lösungen und Konzepte, statt mir selbst den Kopf zu zerbrechen. Das ist das Prinzip parlamentarischer Politik aus dem 20. Jahrhundert. Die klassische Konsumhaltung. Zurücklehnen und andere abnicken lassen, aber im Anschluss sich beklagen, wenn es mal nicht so läuft wie man dachte.
Vielleicht hat mich gerade deshalb die leidenschaftliche Rede von Christoph Lauer im Berliner Abgeordnetenhaus so beeindruckt:
Wie schon damals die Grünen – ich weiß, die Piraten hassen diesen Vergleich – wird das parlamentarische Leben jetzt ordentlich durcheinander gewirbelt und der scheinbar selbstverständliche Status Quo in Frage gestellt. Also im Grunde genau das, was die Grünen im Zuge ihrer Etablierung so gut wie verlernt haben. Sie sind im System eingebettet. Betriebsblindheit stellt sich ein, sobald man nicht mehr über den eigenen Tellerrand blicken kann. Das System passt sich weniger den Systemteilnehmern an, vielmehr passen sich die Menschen dem System an, so erscheint es jedenfalls.
In dem Video kann man nämlich schön zwischen den Zeilen beobachten, nämlich wie die Machtinhaber mit Körpersprache und Verbalentgleisung (re)agieren, ganz nach dem Motto: “Ihr seid so unwichtig, ihr interessiert uns eh nicht” wobei das nur eine Codierung für “Wir müssen so tun als ob ihr uns nicht interessiert, weil wir euch sonst relevanter machen, als wir das wollen”. Alle Sensoren stehen auf “Ignoranz gegenüber dem politischen Feind”. Sehr schade, dass der junge Herr Lauer sich ebenfalls durch Provokation im Abgeordnetenhaus dazu hinreißen lässt und zur – zugegebenermaßen witzigen und nerdigen – Wortspielattake greift. In diesem Moment verliert seine Rede etwas an Wirkungskraft, weil er sich genau darauf einlässt, was er eigentlich bemängeln möchte. Die Haltung: Ich bin der Größte, ich habe Recht, ihr haltet die Schnauze. Dem politischen Gegner keinen Jota Wertschätzung entgegenbringen. Das ist Politzirkus wie man ihn kennt und er uns mittlerweile langweilt.
Aber abgesehen von der Inszenierung der Ignoranz gegenüber des politischen Gegners wissen natürlich trotzdem alle Beteiligten um die wichtige und zukunftsträchtige Rolle der Piraten. Man darf das natürlich nur nicht so deutlich nach außen signalisieren, wenn man das Erfolgsphänomen nicht noch weiter anheizen möchte, denn schwuppdiwupp sitzen diese Polit-N00bz am Ende noch im Bundestag. Da geht es also mal wieder um Parteistrategie und perpetualem Wahlkampf, weniger um themenbezogene Sachdebatten und interdisziplinäre Problemlösungen. Von Dialog keine Spur. Dabei ist es genau das, was die Menschen so schmerzlich vermissen.
Die Piraten sind derzeit der Stachel im trägen Fleisch der Politik. Sie veranlassen die großen Parteien dazu bei vielen Themen ihren schmerzenden Hintern endlich zu bewegen, jedenfalls wenn sie nicht wollen, dass er ihnen irgendwann entzündungsbedingt abfällt. Diesen Prozess kann man derzeit hautnah bei der FDP erleben. Die Piraten als reine Internetpartei oder Chaotentruppe zu stilisieren, wäre über Kurz oder Lang schlichtweg einfältig, denn die Rede von Herrn Lauer zeigt sehr deutlich, wo die eigentliche Kernkompetenz der Piraten liegt und warum sie so viel Sympathien erfahren. Es geht nicht nur um ein freies Internet oder freien Rausch für alle. Es geht um einen frischen Wind in den – man verzeihe mir die vulgäre Bemerkung – vollgepupsten Parlamentssesseln. Sie wollen eine grundlegende Veränderung unseres maroden politischen Systems, hin zu einer eigenverantwortlichen, demokratischeren Gesellschaft, hin zu mündigen Bürgern, hin zu dem großen Open Source Projekt “Demokratie”, bei dem es derzeit nur deshalb so wenig Antworten auf Fragen gibt, weil sich noch viel zu wenig heterogene Bürgergruppen aktiv mit Lösungen zu allen Fragen beschäftigen. Sie tun das deshalb nicht, weil sie mit dem Kulturwerkzeug Internet eben noch nicht so selbstverständlich und behände umgehen können wie die “Digital Natives”, die Bürger eines neuen virtuellen Staatskonstruktes, wie es Sascha Lobo so trefflich beschrieben hat.
Die Piraten werden sich erst dann träge etablieren, sobald alle anderen Parteien das Internet als Kulturwerkzeug begreifen, das die Gesellschaft auf den Kopf stellt, ähnlich wie die Druckerpresse oder weit vorher die Erfindung der Schrift unsere Gesellschaft radikal verändert hat.
Ich würde mir jedenfalls wünschen, dass alle Parteien das endlich begreifen, weil dann die Chance einfach größer wird, dass wir gemeinsam als Gesellschaft auch Themen politisch und bürgerlich gestalten, abseits von parteipolitischen Ränkespielen. Wenn die Komplexität da draußen spürbar zunimmt bzw. einfach medial sichtbarer wird, dann wird es auch einfach Zeit, dass die Verwaltung und Gestaltung der Welt sich dem anpasst. Politik und Macht muss in Zukunft wesentlich breiter geschultert werden. Die Technologien machen es uns theoretisch möglich, nun gilt es nur noch das Bewusstsein dem anzugleichen. Es wird Zeit die Konsumhaltung des auslaufenden 20. Jahrhunderts aufzubrechen und mutig in das Prosumzeitalter zu wechseln, sich also mit Dingen intensiver zu beschäftigen, öffentlich zu diskutieren und vor allem aktiv zu gestalten. Dazu bedarf es aber einer wertschätzenden Gesprächskultur, die man in deutschen Parlamenten und vielen anderen Institutionen so noch nicht vorfindet. Aber es wird geschehen müssen. Ich finde ich erlebe da gerade eine ausgesprochene spannende Zeit. Es ist eine ungewisse Zeit des gewissen Umbruchs.
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