Der mediale Golem: 6 Thesen zur Macht der Bildzeitung

Das jüngste Beispiel um Bundespräsident Christian Wulff und seinem ungeschickten Eingriff in die Berichterstattung der Bildzeitung zeigt wieder einmal sehr deutlich, wie mächtig und bedeutungsvoll das umstrittene Boulevardblatt ist. Oder man stelle sich einfach mal in einem Gedankenexperiment vor, der versuchte Eingriff von Wulff war keine Dummheit im Affekt, sondern hätte unter anderen Umständen ganz normal funktioniert, schließlich hatte man eine Art mediale Vereinbarung geschlossen? Und das wäre, laut Spiegel, sicher nicht das erste stille mediale Abkommen zwischen Chefredaktion der Bild und einem einflussreichen Staatsbürger gewesen.

Aber warum hat die Bildzeitung eigentlich so einen enormen Einfluss? Warum wird sie so häufig kritisiert und dennoch immer wieder gelesen und zitiert? Hier mal einige Thesen von mir, warum das so sein könnte (man darf gerne ergänzen, widersprechen oder zustimmen, es geht mir um einen Diskurs):

1. Die Bildzeitung ist memetisch omnipräsent. Das steckt bereits im Wörtchen „Boulevard“. Sie Bild ist eine Straßenzeitung und liegt nicht verborgen als Abo getarnt im Briefkasten wie andere Tageszeitungen, sondern die Bild liegt genau da wo sich sehr viele Menschen bewegen und aufhalten, meist sogar deutlich sichtbarer als die Publikationen der Konkurrenz. Diese Sichtbarkeit führt auch zu einer Art “Vorbeihuschjournalismus”. Man kann sich vielleicht gerade noch den kompletten Inhalten der Bildzeitung durch Nichtlesen entziehen, den Schlagzeilen auf der Titelseite aber wohl kaum. Egal ob beim Einkaufen oder an massentouristisch geprägten Urlaubsorten, die Bild hämmert die Meme ihrer Titelseite gnadenlos und unfilterbar in unsere Gehirne. Wir lesen sie, assoziieren und bewerten sie sogleich, kurzum sie haben ihren Auftrag erfüllt und uns auf das jeweilige Thema aufmerksam gemacht und unser Bewertungssystem angeschoben, ob wir das nun wollten oder nicht.

2. Damit diese Schlagzeilen sich im Vorbeihuschen so wirksam memetisch einnisten, benötigen sie eine ganz bestimmte Form. Die Bildzeitung (und alle anderen Boulevardmedien) versteht es, komplexe Sachverhalte in eindringliche, hochemotionale Schlagzeilen und knackigen „Artikeln“ zusammenzufassen. Der Mensch liebt Simplizität (egal was für ein Quark gerade getreten wird) oder aus einer anderen Perspektive betrachtet: Eine Schlagzeile ist memetisch umso erfolgreicher, wenn sie emotional auf den Punkt kommt und in Sekundenbruchteile von möglichst vielen “Wirten” erfassbar wird und an das vorhandene Erfahrungssystem andocken kann. Fremdwörter sind demnach tabu, denn die Wahrscheinlichkeit, dass zu viele Menschen das Wort nicht kennen wäre zu große. Es geht hier um den kleinsten gemeinsamen Nenner der Bildung. “Wir sind Papst” versteht jeder.

3. Die Bildzeitung verarbeitet meist qualitativ hochwertige Informationen zu qualitativ minderwertiger Kost. Das heißt die Journalisten der Bildzeitung sind extrem gut ausgebildet (ein hartnäckiges Gerücht besagt: Viele gute und angesehene Journalisten haben schon einmal für die Bild gearbeitet oder dort gelernt) und recherchieren in der Regel schnell und gründlich, aber die Geschichte die daraus am Ende konstruiert wird orientiert sich in erster Linie an Emotion und Provokation, also der Schlagzeilentauglichkeit, dem kleinsten gemeinsamen Bildungsnenner, der Sensation und den Trieben. „Schlechte“ Artikel entstehen also nicht unbedingt wegen schlechter Recherche, sondern meist wegen der reißerischen Rekonstruktion – mancher würde „Spin“, oder Verdrehung der Geschichten sagen.

4. Die Bildzeitung hat so etwas wie eine magische Aura. Weniger der Harry Potter Style, als viel mehr der, dessen Namen nicht genannt werden darf. Oder wie Boris Becker neulich auf Twitter daherpolterte: “(…) MAN legt sich niemals mit BILD an ,oder MAN gewinnt WIMBLEDON”
Die Bild hat das Image einer übermächtigen, ehrfurchterregenden bis angsteinflößenden Ikone. Eine Art Golem, den man für sich nutzen kann (positive Aufmerksamkeit und Reichweite) oder der sich wütend gegen seine “Feinde” in Form von Shithurricanes wendet.

5. Die Bildzeitung ist Teil eines professionell geführten Medienkonzernes und die jeweiligen Chefetagen, egal ob auf journalistischer oder betriebswirtschaftlicher Ebene, sind extrem dicht und hervorragend vernetzt mit fast allen einflussreichen Menschen, die sogenannten „Promis“ aus Politik, Wirtschaft, Medien, Showbusiness etc. Bild selbst ist dabei aber anscheinend relativ gut nach außen abgeschirmt, letzteres sicherlich vor allem auch wegen der Wallraff Enthüllung in den 70er Jahren.

6. Die Bildzeitung und ihre Meldungen haben einen enormen “Retweet-Wert”. Das heißt, selbst wenn man sich über die Bildzeitung echauffiert, empfiehlt man sie dann doch indirekt über Bande weiter. Das wiederum steigert die Wahrnehmung ihrer Omnipräsenz. Die Bildzeitung wird oft auch durch Kritik an ihr selbst wieder zum Thema. Sie bleibt somit immer im Gespräch und lebt von der aus Provokation genährten Gesamtaufmerksamkeit, was wiederum ihr Image als omnipräsente Meinungsmacher stetig befeuert.

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